Kritische Geografie

Verdrängung als urbane Strategie

Daniel MullisVerdrängung und Segregation – Gentrification hat die Schweiz voll erfasst. Städte stehen im Wettbewerb um Steuereinnahmen, Prestige und Arbeitsplätze. Aufwerten! So lautet das Schlagwort, mit welchem die städtischen Behörden dem Konkurrenzdruck begegnen – die soziale Polarisierung ist dabei mehr als ein Nebeneffekt.

Titel

Städte stehen im Brennpunkt der gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse. Die daraus entstehenden Konflikte zeichnen sich – materiell und sozial – in den urbanen Räumen ab. Gerade auch als Folge einer neoliberalen Politik werden Städte heute vielfach von einer tief greifenden Aufwertung erfasst, die praktisch alle Lebensbereiche, von öffentlichem Raum über Wohnraum bis hin zur Sicherheits- und Sauberkeitspolitik betreffen.

Dies gilt insbesondere für die grossen Metropolen. Aber auch in vielen Schweizer Städten ist seit längerem eine Tendenz zur verstärkten Segregation und Verdrängung ärmerer und sonst unliebsamer Schichten aus dem Stadtbild zu beobachten. So auch in der Stadt Bern, wo sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine deutliche Aufwertung des sozialen Status der innenstadtnahen Quartiere vollzogen hat und sich diverse Sauberkeitskampagnen wie die Berner Wegweisungspraxis oder „CasaBlanca“ etabliert haben. Die Auswirkungen und die Rolle der städtischen Behörden innerhalb dieser Prozesse werden im Folgenden thematisiert.

Wettbewerb als Leitmotiv
Mit der Durchsetzung des Neoliberalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie zum Ende der 1970er-Jahre, wurden Städte in eine neue Rolle versetzt. Angetrieben vom Spardruck, dem Dogma der Privatisierung und Deregulierung begannen die Kommunen ihren Besitz und ihre öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren. Auch die gemeindeinternen Strukturen wurden zunehmend an marktwirtschaftliche Maximen angepasst, was in der Regel von einer Minderung der demokratischen Partizipationsmöglichkeiten begleitet wurde. Eine Entwicklung die nach 2004 und der Umstellung zum New Public Management auch in der Stadt Bern zu beobachten war.

Im regionalen Wettbewerb werden Städte als Standort vermarktet und somit in ein geographisches Konkurrenzverhältnis gesetzt und laufen so um InvestorInnen und SteuerzahlerInnen um die Wette. Die Folge dieser Entwicklung waren wirtschaftliche und politische Programme zur besseren Absicherung der Stadt im veränderten Umfeld. Programme, gemäss deren Logik sich Gemeinden aus baulicher wie sozialer Perspektive zwecks Budgetoptiemierung den Bedürfnissen der finanzkräftigen Schichten anzupassen haben. In den Kontext dieser Aufwertungsdynamik fallen, neben baulichen und mietpreissteigernden Massnahmen mit segregierender und verdrängender Wirkung, auch die teilweise Privatisierung des öffentlichen Raumes, die diversen Sicherheits- und Sauberkeitskampagnen so wie die Ökonomisierung von kulturellen Angeboten.

Wichtig jedoch zu betonen ist, dass Städte nicht als „Opfer“ eines übergeordneten Paradigmenwechsels verstanden werden dürfen. Neil Brenner und Nik Theodore betonen in diesem Kontext, in einer 2002 veröffentlichten Studie über den „Actually Existing Neoliberalism“ in der Stadt, dass alle bisherigen Phasen der Neoliberalisierung nicht nur in den Städten verankert seien, sondern in ihnen auch ihre intensivsten Aushandlungsprozesse durchliefen. Städte stellen somit einen integralen Teil der Produktion und Reproduktion der aktuellen wirtschaftlichen Mechanismen dar und sind so als Produkt und Voraussetzung der gegenwärtigen Form des Kapitalismus zu verstehen.

Verdrängung als Prozess
In seiner klassischen Form wurde Gentrification erstmals zu Beginn der 1960er-Jahre beschrieben. Damit wurde ein Prozess angesprochen, in dessen Verlauf Angehörige der unteren Einkommensschichten aus meist älteren und baufälligen, aber zentralen Stadtbezirken durch den Zuzug von wohlhabenderen Schichten verdrängt wurden. Seither hat das Konzept als Theoretisierungsansatz für sozio-ökonomische Verdrängungs- gekoppelt mit räumlichen Aufwertungsprozessen vielfach Anwendung gefunden.

Heute zeigt sich Gentrification als ein globalisiertes, aber lokal hoch spezifisches und ausdifferenziertes Phänomen. Ein Phänomen, das in den letzten Jahren stark durch die Kapitalisierung des Immobilienmarktes und dessen staatlichen Förderung beeinflusst wurde, sodass eine aktuelle Definition vier Punkte enthalten sollte: Erstens, Reinvestition von Kapital; zweitens, soziales Aufwerten durch Eindringen von besserverdienenden Schichten; drittens, Umwandlung der betroffenen Landschaft; und viertens, direkte oder indirekte Verdrängung von schlechterverdienenden Schichten.

Angetrieben wird diese Verdrängungs- und Aufwertungsmechanik von einem komplexen Wirkungsgefüge, aus sozialen und ökonomischen Faktoren. So sind für Neil Smith das massive Einfliessen von Investitionskapital in die Stadt kombiniert mit der teilweise schlechten Inwertsetzung von Bodenrente, für die zunehmende Verdrängung verantwortlich. Andererseits spielt der Wandel des Städtischen selbst eine zentrale Rolle. Der Kernaspekt dabei ist, dass die Stadt im Zuge des Wandels zur post-industriellen Gesellschaft gerade von den wohlhabenden jungen und gut ausgebildeten Exponenten als positive Antithese zum vorstädtischen Leben formuliert wurde. Gesamthaft bedeutet dies, dass eine doppelte Back to the City-Bewegung – die des Kapitals und die der Gentrifier – Ursache für die zunehmende Verdrängung ist.

Bern2000

Bern1990
Sozialer Status nach Quartieren im Vergleich (1990 / 2000), Quelle: Gächter 2006: Beilage 3, überarbeitet .

Gentrification und die Schweiz
Im Schweizer Kontext wurde der Gentrifiaction erst wenig Beachtung geschenkt. Aufgegriffen wurde das Phänomen in einigen Studien des Bundes so wie einzelner Städte. Im Rahmen einer Studie des Bundes, welche auf Volkszählungsdaten basiert, wurde festgestellt, dass viele Städte im Zeitraum zwischen 1990 und 2000 durch den Zuzug einer jungen und finanzstarken Schicht eine eigentliche Renaissance erlebt haben. Gleichzeitig aber, so die Studie weiter, hat die Zahl der FürsorgeempfängerInnen und Arbeitslosen am Stadtrand und in den Vorstädten erheblich zugenommen. Dass diese Entwicklung, welche sich durch steigende Mietpreise und einen anhaltenden Segregationsprozess auszeichnet, unvermindert anhält, wird im unlängst veröffentlichten Immo-Monitoring 2010 des Beratungsbüros Wüest & Partner verdeutlicht.

Eine der wenigen universitären Auseinandersetzungen zur spezifischen Situation der Gentrification in der Schweiz streicht vier zentrale Faktoren hervor, welche den Prozess im hiesigen Kontext fördern: Erstens, die Bundespolitik, welche mit ihrer institutionellen Organisation in Bund, Kantonen und Gemeinden den städtischen Wettbewerb fördert und aus Gründen der Nachhaltigkeit die Verdichtung nach innen gezielt voran treibt; zweitens, haben die Städte ihre Strategien angepasst und versuchen, ihre Attraktivität als Wohnstandort für potente SteuerzahlerInnen zu steigern; drittens, die notorisch herrschende Wohnungsnot, die den renditeorientierten Wohnungsbaumarkt anheizt; und viertens, das Wiedererstarken eines städtischen Lifestyles.

Die Lorraine ein Berner Stadtquartier
Das Lorrainequartier zählt an die 2’400 EinwohnerInnen und grenzt nördlich an die Berner Innenstadt, von welcher sie durch den Aaregraben getrennt ist. Lange Zeit galt das Quartier wegen des hohen AusländerInnenanteils und des Sex-Gewerbes als „Ghetto von Bern“. Diese Sichtweise herrschte auch beim Planungsamt vor, wo es galt, der „Verslumung“ des Quartiers Einhalt zu gebieten. Seit einigen Jahren jedoch gilt die Lorraine als neues Trendviertel der Stadt.

Dieser Wandel setzte in den 1980er-Jahren mit dem Einzug der linken Szene ein. Die ZuzügerInnen, welche das Quartier verjüngten, verkörperten eine neue Lebensweise und gründeten neue Wohnformen, Ausgangslokale und Bars. Sie brachten aber auch neues Kapital – gerade in Form von Wohnbaugenossenschaften – ins Quartier. Damit setzte eine Entwicklung ein, welche alsbald vom Zuzug einer wohlhabenderen Schicht und dem Einfliessen von städtischer Primärinvestitionen zwecks Anheizung privater Investitionen sekundiert wurde.

Dieser Wandel lässt sich auch statistisch belegen und die Daten sprechen eine deutliche Sprache. Gesamthaft gesehen hat das Quartier nämlich zwischen 1990 und 2000 den zweithöchsten Anstieg des sozialen Status der Berner Stadtquartiere verbuchen können. Der Status verblieb aber unter dem städtischen Mittel, was das Potential zur weiteren Gentrification offen legte. So erstaunt nicht, dass neuere Daten den Fortgang der Entwicklung belegen.

Aber auch baulich hat sich im Quartier in den letzten zehn Jahren einiges getan. So etwa wurde der Campus II der Gewerblich-Industrielle Berufsschule oder die Überbauung Vordere Lorraine errichtet. Diese Neubauten hatten aber wegen des Abrisses von günstigem Wohnraumes eine erhebliche Verdrängungswirkung. An anderer Stelle wurden diverse Gebäude totalsaniert. Auf dem Schnellgutareal wurde 2008 der Wylerpark fertiggestellt, der gemessen an den Mietpreisen sämtliche Rahmen sprengt. Zurzeit stehen weitere Neubauprojekte und Hauserweiterungen in Planung; darunter auch städtische Projekte. Den Projekten der letzten Jahren aber allen gemein ist, dass sie in die Stadtplanung eingebunden waren; sei es durch die Förderung von Sanierungen, städtischen Wettbewerben oder Gesamtplanungen.

Geplante Stadt
Die Stadtplanung ist auf verschiedenen räumlichen Skalen verankert und administrativ der Präsidialdirektion unterstellt. Für die Planung gelten einerseits das Übergeordnete Recht, andererseits bestehen in Bern konkrete Planungsleitlinien auf städtischer Ebene sowie Stadtteil bezogene Richtpläne; im Falle der Lorraine kommt noch eine Quartierplanung hinzu. Gesamtstädtisch sind wegen seiner Leitlinien definierenden Funktion das Stadtentwicklungskonzept (STEK) von 1995 und dessen Fortschreibungen von herausragender Bedeutung.

In der Analyse fällt auf, dass die Dokumente für Stadtteil und Quartier sehr technisch gehalten sind und sich mit konkreten baulichen Fragen beschäftigen. Frappant ist aber die Tatsache, dass obwohl durch das STEK die Vorgabe der ganzheitlichen Planung geben wäre, die sozialen Aspekte fast gänzlich fehlen. Insbesondere ist dies bei der Quartierplanung der Fall, die sich über weite Teile wie eine Marktstudie liest. Einzeln werden Stärken und Defizite des Quartiers abgearbeitet und das jeweilige Entwicklungspotential hervorgehoben.

Die gesamtstädtischen Dokumente hingen werden konkreter. Beispielhaft sind etwa der Vergleich des Konzeptes Wohnen, in dem die städtischen Ziele für die Wohnraumentwicklung festgehalten werden, des STEK 95 und dessen Fortschreibung 2003. So verschwinden in der Neuauflage die Richtlinien, welche einen sozialen Ausgleich anstrebten, fast gänzlich. Jene, die erhalten blieben, sind rein strukturell zum Scheitern verurteilt, weil der Wohnbau nahezu gänzlich in die Hände Privater gelegt wurde. Aktuell tritt die Stadt hingegen beim Neubau der Siedlung Stöckacker-Süd zum ersten Mal seit 1945 bei einem grösseren Wohnbauprojekt selbst als Bauherrin auf. Ironie ist aber, dass zwecks Realisierung dieses Projektes günstiger Wohnraum abgerissen wird und die Mietrpreise sich faktisch verdoppeln werden! Die Stadt werde den Betroffenen bei der Wohnungssuche behilflich sein, heisst es dort auf Anfrage.

Was die Zukunft bringen soll, wird in der Strategie 2020 dargelegt. Bern solle seine Standortvorteile weiter nutzen und dadurch auf 140’000 EinwohnerInnen anwachsen. Was dies planerisch bedeutet, wird bereits im Konzept Stadtentwicklung Wohnen im Jahr 2007 aufgezeigt. Darin verdeutlicht die Stadt ihre konzeptuelle Neuausrichtung auf die Bedürfnisse der Wohlhabenderen und betont, dass sie primär an potenten SteuerzahlerInnen interessiert ist.

Verdrängung als urbane Strategie
Die Folge dieser Politik zeichnet sich nicht nur mit der Gentrification in der Lorraine ab, sondern auch in der auf dem ganzen Stadtgebiet vorangetriebenen baulichen und sozialen Aufwertung. Ein Blick auf die geplanten Projekte der nächsten Jahre zeigt, dass die Stadt künftig ihren Schwerpunkt in Berns Peripherie – vor allem in Bern West und Nord – legen will. In Stadtteilen also, die bis anhin als Wohnraum für ärmere Schichten diente. Die dahinter liegende Logik der Aufwertung wird vom Gemeinderat im Zusammenhang mit der „sozialen und ethnischen Durchmischung“ gar explizit formuliert:
„Sind die Wohnbauprojekte im Westen realisiert, wird sich voraussichtlich auch die demografische Zusammensetzung in diesen Quartieren verändern“
Alles in Allem hat der Gentrificationsprozess für die Stadt im Wettbewerb in doppelter Hinsicht eine „positive Wirkung“. Zum einen ziehen wohlhabendere Menschen in die Stadt, zum anderen aber ermöglicht es den Kommunen, sich quasi aus einem ökonomischen Zwang heraus, der ärmeren Schichten durch Verdrängung über die Gemeindegrenzen zu entledigen und so Einsparungen bei den sozialen Ausgaben zu tätigen. Insofern ist der Prozess zu verstehen, als lokale Ausprägung eines segregierenden Kampfes um Raum, der sich unter den Bedingungen des kapitalistischen Wettbewerbs zwangsläufig etabliert. Die gentrifizierenden Städte sind in diesem Sinne „Räume der Sieger“ des Wettlaufes um Investitionen und Prestige, während die „Räume der Verlierer“ auf der Strecke bleiben.

Vertiefung und weitere Infos:
link_ikon Gentrification: Die Debatte in der Schweiz 2010 – eine Bestandsaufnahme

link_ikon Gentrification und Neoliberalisierung: Eine kritische Analyse der Berner Stadtplanungsdokumente am Beispiel des Lorrainequartiers
link_ikon Bern: «Trend zurück in die Stadt ist ungebrochen»
link_ikon „Neoliberale Stadt“ – Entwicklungen und Folgen einer neoliberalen Stadtpolitik
link_ikon Literatur zur Berner Stadtplanung, Gentrification und Neoliberalisierung von Stadtpolitik

Dieser Artikel erschein bei Kritische Geografie

Kritische Geografie

Multiplizierte Grenzen

Die gesellschaftlichen Prozesse, die sich in Staatlichkeit kumulieren schaffen ständig Grenzen, produziert Aussen und sorgen dafür, dass wir uns als Wir empfinden. Ein Wir, das ideologisch bewusst und zu einem Zweck konstruiert wurde – eine kleine Geschichte der Multiplikation von Grenzen.

Daniel Mullis – Noch im 16. Jh. war Europa mehr oder weniger durch nicht lineare Grenzen und lose Territorien geprägt. BewohnerInnen einer Region wurden durch Unterwerfung unter den Herrscher – oder in manch wenigen Fällen der Herrscherin – zu einem Volk. Doch mit dem Westfälischen Frieden von 1648, in dessen Zuge der Dreissigjährige Krieg beendet wurde, in dem sich im Wesentlichen die Konflikte zwischen der Katholischen Liga und der Protestantischen Union und auch die Gegensätze zwischen Habsburger und Franzosen auf europäischer Ebene entladen hatten, begann ein grundlegender Wandel hin zum Territorialstaat. Dies weil im Friedensschluss von 1648 zum ersten Mal Grenzen auch linear gezogen wurden, Territorien der Königreiche also festgeschrieben wurden. Somit war das Volk nicht mehr nur durch die Unterwerfung, sondern auch stärker räumlich definiert. Diese Entwicklung zu einer linearen Grenze, der klaren Trennung zwischen Innen und Aussen wurde durch die Bürgerliche Revolution und die Entstehung des Nationalstaates noch um ein vielfaches verstärkt.

Die Materialisierung von Staatsgrenzen wurde aber seit dem Beginn der europäischen Moderne – oftmals mit der europäischen Entdeckung Amerikas (1492) verbunden, dem Zeitpunkt also, als Europa sein Draussen entdeckte – auch von einer Debatte über Organisationsform der Menschen unter der Prämisse der Gleichheit begleitet, diese Debatte war es denn auch die schliesslich die Bürgerliche Revolution auf philosophischer Ebene begleitete und das theoretische Fundament für die die neue Staatlichkeit bot. Die in dieser Debatte – der Aufklärung – entstandene Konzeption des Bürgers als freies Individuum, welches als Teil des Souveräns das Schicksal des Staates mitentscheidet, ist bis heute von grosser Relevanz geblieben.

Natürliche Ordnung
Thomas Hobbes, einer der zentralen Denker der Aufklärung, hielt (1651) fest, dass alle Menschen von Natur aus gleich seien und sich eine Hierarchisierung in unten und oben nicht aus einem Naturzustand ableiten lasse. Wegen des ständigen Wettbewerbs und Konkurrenzkampfs unter den Gleichen drohe aber ein „Krieg aller gegen alle“. Die Lösung zur Unterbindung dieses Kriegs sieht Hobbes in der Selbstunterwerfung unter die Gesetzgebung eines Souveräns. John Locke definiert (1689) Freiheit, Gleichheit und die Unverletzlichkeit von Person und Eigentum als natürlich gegebene Rechtsgüter. Aus dem Recht, Verstösse gegen diese Rechte zu bestrafen, entsteht bei Locke die Gemeinschaft als Garant der Naturrechte und dient der Verhinderung vor übermässiger Bestrafung. Damit sind die unveräusserlichen Rechte bei Locke durch Rechte anderer begrenzt. Gesamthaft gesehen negiert Locke durch die Einführung von Naturrechten und des Bestrafungsrechtes die radikale Freiheit, wie sie von Hobbes vertreten wurde. Diese beiden Positionen eröffnen das Spannungsfeld von Einschluss- und Ausschlussmechanismen, um welche sich alsbald das Konzept des staatlichen Bürgers und der Volkssouveränität drehen sollte.

Eine weitere zentrale Debatte drehte sich um die Frage der Souveränität. So verstand etwa Jean Bodin (1576) Souveränität als die Potenz des Monarchen „den Untertanen […] ohne ihre Zustimmung das Gesetz vorzuschreiben.“ Souverän konnte in dieser Konzeption somit nur eine einzelne Person sein. Eine Person also auf der sich die gesamte politische Macht vereinte. Mit Jean-Jacques Rousseau (1762), wird ein radikaler Wandel dieses Ansatzes vollzogen, zumindest hinsichtlich der Frage wer Souverän sein könne. Nach Rousseau sollte nämlich die Souveränität auf Basis eines Gesellschaftsvertrages, unter den sich alle freiwillig unterordnen, an das Volk übergehen. Auf dieser Basis stehen die amerikanische (1787) und die französische (1791) Verfassung, die aus den jeweiligen Revolutionen hervorgingen und die Republik als Basis der Demokratie ausriefen.

Die Konstruktion des Wir
Diese Verschiebung der Macht von einem einzelnen Monarchen hin zum Volk bringt eine massive Veränderung in der Notwendigkeit zur Konstruktion von Einheit und zur Definition von Grenzen – also das abschliessen von Raum – mit sich. Dies weil das Volk zum einen die politische Macht darstellt und zum anderen der Raum in dem das nunmehr naturalisierte und fixierte Volk lebt den Herrschaftsraum des Volkssouveräns definiert. Diese Konstruktion betrifft die materiellen Aussengrenzen sowie die sozialen und kulturellen Grenzen im Innern. Das Volk kann daher nicht als Vorläufer einer Nation und Garant des Staates verstanden werden, sondern muss als Ergebnis eines konstruktiven Prozesses interpretiert werden, welcher aus spezifischen Gründen vollzogen wurde. Volk und Nation sind demnach etwas durch und durch vorgestelltes, das als solches nicht existiert und erst über den Umkehrschluss durch die Schaffung von Grenzen – die paradoxerweise durch eben dieses, das angeblich vorhandene, natürliche und einheitliche Volk definiert wurden – geschaffen wird.

In der Konstruktion dieser Einheit spielte die oben schon angesprochene Entdeckung des europäischen Aussen eine wichtige Rolle. Verschiedene postkoloniale TheoretikerInnen wie etwa Edward Said (1978) weisen darauf hin, wie wichtig das Gegenbild, die Konstruktion des Wir-Sie für die Definition des europäischen Selbstbildes war und somit wesentlich zur Herausbildung der Selbsterkennung beigetragen habe. So wird Europa laut Said in der analysieren Literatur, im Gegensatz zum Orient als maskulin, rational und fortschrittlich gedacht, wogegen der Orient als feminin, irrational und primitiv dargestellt werde. Insofern betonen Étienne Balibar (1990), dass die Begriffe Nation, Volk und Rasse im gleichen Dunstkreis schwebten und der koloniale Rassismus ein zentraler Aspekt in der Konstruktion des neuen nationalen Wir war.

Diese Grenzziehungen – nach innen und gegen aussen – manifestierten sich deutlich in den jungen Republiken des 18. und 19. Jahrhunderts. Das Wahlrecht war oftmals an ein Einkommensniveau gebunden, Frauen waren nicht wahlberechtigt und Fremde wurden zunehmend als volksfremd betrachtet und ausgeschlossen. Diese ausschliessenden Praxen verweisen in aller Deutlichkeit auf die Existenz der Grenzen im Inneren und deuten darauf hin, dass eher eine ausschliessende Konzeption des Bürgers im Begriff war, sich durchzusetzten. Der Ausschluss der Anderen diente aber auch einer Verfestigung des Wir für jene, die teilhaben konnten. So war das Konzept des Bürgers, als Teil eines gestaltenden Kollektivs von Gleichen, auch ein normalisierendes Konstrukt, im Sinne, dass es das Wir immer stärker auch von innen festigte. Durch das Ausüben von gemeinsamen Rechten, an welchen die Anderen nicht teilhaben durften, konnte sich so auch das Verständnis von Wir überhaupt erst durchsetzten. Diese immer neuen Grenzziehungen, diese andauernden Inklusion – und Exklusionsmechanismen, sind es denn schliesslich auch, welche das Selbstverständnis des Wir in einem erheblichen Masse fördern.

Zeitgleich setzten die jungen Nationalstaaten auch gegen aussen auf eine verstärkte Abschottung. So sollte nicht erstaunen, dass es im Zuge des französischen Revolutionsprozesses zur Herausbildung einer ersten bürokratischen AusländerInnenkontrolle kam. Nach dem Wiener Kongress 1815 und der damit erfolgten Restauration wurden in ganz Europa die Grenzkontrollen nun erneut unter monarchischer Herrschaft verschärft und eine frühe Form der Aufenthaltsbewilligung eingeführt. Noch vor dem 1. Weltkrieg wurde der Reisepass zum zentralen Dokument, mit welchem eindeutig Zugehörigkeit belegt werden konnte.

Nach den beiden Weltkriegen war in Westeuropa – zum Teil unter Zwang – der Wandel hin zu fixen demokratischen Nationalstaaten vollzogen worden. In diesem Zusammenhang betont Tony Judt (2005), dass das heutige Europa und seine stabilen Staaten nicht zuletzt aus den ethnischen Säuberungen und Vertreibungen während und nach den Weltkriegen hervorging und der erneute Übergang zur Demokratie somit auch auf einer Entledigung des Anderen auf eigenem Boden beruhen würde. Insofern sei unser „friedliches“ Europa, die geeinte Europäische Union erst durch die Katastrophe des 20 Jh. möglich geworden.


Europa nach dem 1. Weltkrieg (Vergrösseren anklicken)


Europa nach dem 2. Weltkrieg

Und heute?
Heute sind die Grenzziehungen im Innern wie gegen aussen diffuser und vielfältiger geworden. Staaten haben sich in transnationale Verträge eingebunden, die Globalisierung hat eine ökonomische Liberalisierung und Verflechtung gebracht, und die Grenzen sind für eine privilegierte Schicht durchlässiger geworden. Die einfachen Strukturen und vor allem die Möglichkeit zur Konstruktion von binären Strukturen von Wir-Sie sind somit zumindest teilweise wegerodiert worden. So betont etwa Homi Bhabha, dass Stereotypen keinesfalls zu jeder Zeit einen sicheren Referenzpunkt darstellen würden und solche Strukturen wandelbar und vielfältig seien. Was aber nicht heissen solle, dass binäre Strukturen keine Wirkung mehr entfalten würden. Denn noch heute orientiert sich die Konzeption des Bürgers an einer grundlegend ausschliessenden Logik, in der Rassismen und andere Mechanismen zur Konstruktion von Anderssein weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Dazu kommt, dass gerade politisch binäre Strukturen einfach zu bedienen sind und deshalb ein willkommenes Feld für populistische Politiken in sich bergen.

Beispielhaft ist etwa der Wandel der Konzeption von Rassismus an und für sich. Balibar beschreibt so etwa den Rassismus, wie er heute vorherrsche, als Rassismus ohne Rasse, in dem Vorurteile nicht mehr durch biologische, sondern durch kulturalistische Argumentationsstrukturen legitimiert werden, sich die Legitimation für Vorurteile und Ausschlussmechanismen also verschoben hat. Aber auch in diesem Konzept des neuen Rassismus bleibt eine räumliche Einschreibung bestehen. So finden sich etwa noch heute viele Modelle, welche Kultur an Raum binden – mensch denke nur an die These des Kampfes der Kulturen von Samuel Huntington oder die Erklärungsmuster für die Probleme welche im Zusammenhang mit den französischen Banlieues herbeigezogen werden –, indem Raum die Kultur definiert und als Erklärungsmuster für allerlei vorurteilbehaftete Stereotypisierungen beigezogen werden.


Einteilung der Welt in Kulturkreise nach Huntington (Vergrösseren anklicken)

Heute ist aber auch die nationale Souveränität durch die globalisierenden Prozesse selbst in Frage gestellt. Die in den Gremien der Internationalen Organisationen wie etwa WTO, UNO, aber auch EU getroffenen Entscheidungen tangieren die nationale Souveränität auf unterschiedliche Weise. Dies führt bisweilen zu einer Verminderung der Wichtigkeit von nationalen Grenzen – aber keinesfalls zu deren Verschwinden. Es bedeutet aber, dass unterschiedliche politische Entscheide auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind und als solches in unterschiedlicher Weise die Grenzen betreffen. So ist etwa zu beobachten, dass, während die Grenzen im Innern des Schengenraums abgebaut wurden, die Schengen-Aussengrenzen massiv ausgebaut wurden. Insofern sind Grenzen vielfältiger, flexibler und für die Unerwünschten noch abweisender geworden, während gleichzeitig ein weitgehend offener Binnenraum entstanden ist.


Fazit

Staatsgrenzen sind ein Produkt eines konstruktiven Prozesses von Volk und Einheit, eine Konstruktion, die vollzogen wurde, um Macht über einen Raum zu legitimieren. Im Verlauf dieses Prozesses sind vielerlei Multiplikationen der Potenz von Grenze im Innern wie im Äussern festzustellen. Zur materiellen Verfestigung der Grenze als Trennlinie kam durch die Grenzen im Innern eine weitere Ebene hinzu. Eine Ebene, die auf Ausschliessmechanismen beruht und enorm diffus ist.

Die Entstehung der republikanischen Demokratie ist insofern untrennbar mit der andauernden Abgrenzung, Definition und Konstruktion von Aussen und dem Anderen verbunden. Mit dem Konzept des Staatsbürgers wurde von allem Anfang an ein ausschliessendes und normalisierendes Konstrukt als Basis der politischen Macht geschaffen. Staatlichkeit und das moderne Konzept des Bürgers wirken demnach zwangsläufig grenzziehend und werden immer ausschliessend wirken

Der Text basiert im Wesentlichen auf der Vorlesung:
Le frontoiere della cittadinanza von Sandro Mezzadra, Università di Bologna
Dieser Artikel erschien bei Kritische Geografie