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Fussball: Berns wankendes Wunderdorf…

Stephan Fuchs – Die Rhythmen sind verblasst. Das Berner Wankdorf, das legendäre Fußballstadium in dem Deutschland 1954 Weltmeister wurde, lotterte vor sich hin. Die Bänke vermoderten, die Ränge zerbröckelten, Unkraut überwucherte, was einst der Stolz der Schweizer Nation war. Hier wurde 1954 das „Wunder von Bern“ gespielt.

Ein weiteres Wunder überkam Bern erst wieder am 3. August 2001, als das Stadion kontrolliert in die Luft gesprengt wurde. Das 1925 erbaute, eigentlich schützenswerte Zeitdokument, zerbarst unter grotesker Schönheit. Damit hatte, nebst dem Londoner Wembley Stadion eine zweite legendäre Fussballarena in Europa ausgedient. „Aus, Aus, Aus, . . . Aus, das Spiel ist aus…“ hauchte Radioreporter Herbert Zimmermann damals in sein Mikrofon.

Das romantische Stadion von Bern sorgte seit 1925 für heiße Gemüter und Tränen. Tränen der Niederlage, Tränen der geballten Euphorie und des Sieges, Tränen die während der Spiele geflossen sind. Das altehrwürdige Stadion mit dem für britische Besucher eher anrüchig lustigen Namen „Wankdorf“, wurde zum politisch korrekten und langweiligen „Stade de Suisse“. Da gibt es nun, zumindest für die Briten, keine Lachtränen mehr. Kein Wunder sind sie nicht mit dabei an der Euro08. Satte 70,8 Prozent der BernerInnen finden den Namen „Stade de Suisse“ völlig daneben. Sie dürfen wohl aus sentimentalen gründen noch „Wankdorf Bern“ anhängen. Zur letzten Ehre der Berner kann man auch noch „Nationalstadion“ ganz am Schluss ansetzen.

Tränen der Enttäuschung flossen den nostalgischen Berner Fußballfans und den Geschäftsleuten, als der Schweizerische Fußball Verband die spannendsten Spiele der EURO 08 an die Basler vergeben hat. Und das obwohl es eigentlich den Bernern zu zusprechen war, dass die EM überhaupt in die Schweiz kommen kann. Dort, im St. Jakob-Park findet denn nun auch das Eröffnungsspiel, zwei weitere Gruppenspiele, zwei Viertel- sowie ein Halbfinalspiel statt. Basel hat somit wohl das eigentliche Nationalstadion.

Wenn denn schon nicht der EM Halbfinal nach Bern kommen wird, dann ist ist zumindest das eigentlich scheussliche Wankdorf-Quartier recht spannend: Mit dem BEA Messegelände, dem monumentalen, architektonischen Wunderwerk des Paul Klee Zentrums, dem Hotel Guisanplatz, dem extra Zubringer „S-Bahn-Station Wankdorf“, da haben auch die Briten wieder was zu lachen und dem militärischen Auslandsgeheimdienst an der Papiermühlestrasse, der militärischen Bibliothek, sowie dem architektonischen Wunderwerk des schweizerischen FBI, dem Bundesamt für Polizei und Inlandsgeheimdienst entwickelt sich Wankdorf zum eigentlichen Ballungszentrum.

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War das ‘Wunder von Bern’ ein Wunder?

Karl Weiss – Dies ist ein Artikel über Sepp Herberger und sein Team, das die Fussballweltmeisterschaft 1954 in Bern in der Schweiz gewann. Es beruht auf einem Interview und Gespräch von mehreren Stunden, das ein Bekannter von mir mit einem der Teilnehmer der damaligen deutschen Delegation in der Schweiz geführt hat, der nicht namentlich genannt werden will. Es stellt also die persönliche Sicht eines Menschen dar, nicht die ‚absolute Wahrheit’. Auf jeden Fall ist dies eine sehr interessante Sicht.

Das Ganze begann im Jahr vor der Weltmeisterschaft von 1954, im Wembley-Stadion von London, bei jenem Spiel zwischen England und Ungarn, in dem England zum ersten Mal zu Hause besiegt wurde.

Fußball war Englands’ Sport. Die Engländer, so wusste jeder, waren weit überlegen allen anderen Teams. Diese Überlegenheit war so fundamental und so weitgehend anerkannt, dass England vor 1950 gar nicht an Fussballweltmeisterschaften teilnahm. Die waren für alle – außer England.

England war bis dahin zu Hause unbesiegt, das schien dieses Urteil zu bestätigen. Nun aber wurde alles anders. Das Nationalteam Ungarns hatte die Engländer zu Hause besiegt! Es eilte von Sieg zu Sieg, war für Jahre ungeschlagen, ja nicht nur ungeschlagen, es gewann alle Spiele! Auch das Turnier der Olympischen Spiele von Helsinki 1952 hatte sie gewonnen. Jeder, der etwas von Fußball verstand, war fasziniert von diesem Team um den Spielmacher Puscas.

Die überfallartigen Angriffe dieser Mannschaft, basiert auf Schnelligkeit, auf Genauigkeit der Pässe und auf Positionswechseln der Angreifer, waren tödlich für praktisch jeden Gegner. Diese Nationalmannschaft von Ungarn brachte es fertig, in fast jedem Spiel gegen andere Nationalmannschaften innerhalb der ersten zehn Minuten mindestens zwei Tore vorzulegen!

Die wesentlichen Spieler dier Mannschaft waren technisch allen anderen Spielern auf den jeweiligen Positionen überlegen, das heißt, sie konnten sie ausspielen. Bei den Angriffen wurde nicht einfach, wie bis dahin im Fußball üblich, der Ball hoch nach vorne gedroschen und gehofft, einer der Stürmer könnte ihn kontrollieren und etwas damit anfangen. Erstmals in dieser mannschaftlichen und nicht individuellen Form sah man das Führen des Balles nach vorne, eng am Fuß, sah man Dribblings, mit denen Verteidiger ausgespielt wurden und sah man Körpertäuschungen in vollem Lauf mit dem Ball am Fuß, die fast jede gegnerische Abwehr wie Anfänger aussehen ließ.

Vor allem aber – und das traf nicht nur auf die ungarische, sondern auch auf die deutsche Mannschaft zu, wurde weit mehr als vorher als Mannschaft gespielt, nicht mehr im wesentlichen auf Einzelleistungen aufbauend.

Jeder wusste, wenn nicht ein Wunder geschieht, wird diese ungarische Nationalmannschaft die Weltmeisterschaft von 1954 gewinnen! Nur einer sagte etwas anderes: Sepp Herberger, damals Trainer der deutschen Fussballnationalmannschaft, behauptete, man werde im Endspiel gegen diese Ungarn gewinnen. Er wurde belächelt.

Herberger tat etwas, was damals die Trainer noch nicht kannten: Er kaufte einen Film über ein Spiel der Ungarn, auf dem das ganze Spiel zu sehen war, und studierte die Mannschaft auf diesem Film. Heute ist es tägliche Routine, die Videos von Spielen der eigenen Mannschaft und des Gegners zu studieren – ja, es ist zum A und O der Trainer geworden.

Der Film, den Herberger studierte, war das sagenumwobene Spiel mit dem ungarischen Sieg in Wembley.Er studierte diesen Film über Monate. Danach sagte er: „Die Ungarn haben einen Schwachpunkt: Der rechte Verteidiger Buzánski. Er ist schwächer als viele andere auf dieser Position. Wenn wir gegen Ungarn gewinnen wollen, müssen wir über den linken Flügel angreifen.“

Er suchte und fand den idealen Linksaussen für diese Aufgabe: Schäfer von 1. FC Köln. Er ließ in allen Vorbereitungsspielen bevorzugt über den linken Flügel angreifen, um diese Art von Spiel ins Unterbewusstsein der Spieler eingehen zu lassen – auch dann, wenn dieses gegen den aktuellen Gegner nicht angebracht war. Schäfer war der beste Linksaussen, den Deutschland je gehabt hatte, schnell und ballgewandt Er fütterte die anderen Stürmer mit hohen und mittelhohen Flanken von links in den Strafraum.

Übrigens gibt es hier eine klare Parallele zum Endspiel der darauffolgenden WM zwischen Schweden und Brasilien: Als Brasilien 1:0 zurücklag, gab der Kapitän Didi die Parole aus, alles über Garrincha am rechten Flügel laufen zu lassen, dem genialen Dribbler. So sehr die ersten WM-Siege der Brasilianer mit dem Namen Pelé verbunden sind, in Wirklichkeit war es das Genie Garrinchas, das ausschlaggebend für die brasilianischen WM-Siege 1958 und 1962 war.

Seit diesem Zeitpunkt war Herberger besessen von dieser Auseinandersetzung. Er dachte kaum noch an etwas anderes. Die sehr gemischten Ergebnisse seiner Mannschaft vor der WM liessen ihn ungerührt. Er sah sich im Endspiel – und das gegen Ungarn!

Er benutzte seine ganze Zeit, um einen umfangreichen Plan auszuarbeiten, wie er die Spieler positionieren müsste, wie die Ungarn psychologisch zu überraschen seien und die eigene Mannscaft psychologisch aufgebaut werden könnte. Er nannte dies nicht Psychologie, er nannte dies Energie.

Er war sich darüber im Klaren: Die Ungar hatten „einen Lauf“ und er übersetzte dies völlig richtig: Ihre eigenen Erfolge gaben den Ungarn so viel Selbstvertrauen, dass sie in jedem Spiel über sich hinauswuchsen. Es war klar, es gab kein verfügbares Mittel, um dies Selbstvertrauen zu brechen. Er musste im Gegenteil genau dies ausnützen: Er musste dem ungarischen Team die Sicherheit geben, sie würden gewinnen. Er musste sie die deutsche Mannschaft unterschätzen lassen! Er tat Alles, um dies zu erreichen.

Eine Aussage von ihm hierzu ist in Kaiserslautern in Stein geschlagen am Denkmal der Lauterer Spieler, die Teil hatten an dem Triumph: „Die Außenseiterrolle ist der Schlüssel für die Schatzkammer unermesslicher Kräfte, die – geweckt und geschürt – Energien freisetzt, die helfen, Berge zu versetzen.“ Und das war, was Herberger in die Tat umsetzte: Er ließ Deutschland in eine fast hoffnungslose Außenseiterrolle rutschen und er weckte und schürte Energien bei seinen Spielern.

Wahrscheinlich hat er bei einer Reihe von Spielen vor der WM absichtlich eine schwächere Mannschaft aufgestellt, als er zur Verfügung hatte! So spielte man z.B. in den Qualifikationsspielen für die WM gegen Norwegen nur unentschieden, gegen ein Norwegen, das selbst gegen das Saarland verloren hatte. Das Saarland stand damals noch unter französischer Verwaltung und durfte als eigenes Land an der Weltmeisterschaft teilnehmen.

Erst unmittelbar vor der WM begann er mit dem Team zu spielen, das später die WM gewinnen würde: Es war auf fünf Spielern vom 1. FC Kaiserslautern basiert, die kurz vor der WM die deutsche Meisterschaft 53/54 gewonnen hatten: Der Verteidiger Kohlmeyer, der Mittelläufer Liebrich, der rechte Läufer Eckel sowie die beiden Brüder Walter, Fritz als Halblinks und Ottmar als Mittelstürmer. Dies waren nicht unbedingt alle die besten Spieler auf diesen Positionen, Kohlmeyer war deutlich umstritten, aber er brauchte ein eingespieltes Team, ohne zu diesem Zeitpunkt noch die Zeit für viele Vorbereitungsspiele zu haben. So nutzte er das „Gerüst“ des Kaiserslauterner Meisters, um seine moderne Vorstellung eines Mannschaftsspiels umzusetzen.

Zwar ist der minutiösen und vorher in dieser Form nie gesehnen Vorbereitungsarbeit Herbergers sicherlich ein wesentlicher Teil des Triumphes zuzuschreiben, aber es kamen ihm auch eine Anzahl von günstigen Umständen zu Hilfe:

Der erste davon war die Auslosung und der Modus der Gruppenspiele.

Wie vorher schon üblich, gab es in jeder Gruppe gesetzte Mannschaften (die als besser eingeschätzen) und nicht gesetzte (hinzugeloste). Es war in Herbergers Taktik wichtig, nicht zu den gesetzten Mannschaften zu gehören. Dann hatte man die Möglichkeit, mit einer spektakulären Niederlage gegen eine der gesetzten Mannschaften zum Aussenseiter zu werden. Und so geschah es. Deutschland wurde nicht gesetzt. Dafür war sicherlich die schwache Vorstellung in den Qualifikationsspielen mit verantwortlich, aber wohl vor allem Deutschlands Ansehen, nur neun Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges. Man wollte und musste jeden möglichen Eindruck vermeiden, Deutschland würde ein irgendeiner Weise bevorteilt.

Man konnte ja nicht wissen, nichts gesetzt zu sein war Teil des Herberger-Plans.

Der Modus der Gruppenspiele war nach heutigen Verhältnissen fremdartig. In jeder Gruppe waren vier Mannschaften, aber sie spielten nicht jeder gegen jeden, sondern nur die Gesetzten gegen die nicht Gesetzten. Auch das kam Herbergers Plan entgegen, denn nun brauchte seine Mannschaft nicht gegen den anderen nicht Gesetzten der Gruppe, Süd-Korea, zu spielen, was angesichts der damaligen Kräfteverhältnisse einen unerwünscht hohen deutschen Sieg ergeben hätte.

Vor der WM waren folgende Mannschaften als Favoriten gehandelt worden: Uruguay, der amtierende Weltmeister, nach Ansicht Vieler das zweitbeste Team der Weltmeisterschaft nach den Ungarn. Brasilien, der zweite der vorhergehenden WM, dessen wirkliche Stärke nie deutlich wurde, natürlich das ungarische Traum-Team, dazu der zweimalige Weltmeister Italien und auch noch das Fußball-Mutterland England. Doch auch Österreich, Frankreich und die Heimmannschaft Schweiz, damals alle Fußball-Mächte, waren unter den Favoriten.

So wurden denn auch gesetzt: In Gruppe 1: Brasilien und Frankreich, in Gruppe 2: Ungarn und Türkei (dieses Setzen der Türkei war auch ein günstiger Umstand; eigentlich war dieser Platz für Spanien vorgesehen, das sich aber nicht qualifizieren konnte, so rückte die Türkei nach, obwohl sie eindeutig schwächer einzuschätzen war als das nicht gesetzte Deutschland), in Gruppe 3: Uruguay und Österreich und in Gruppe 4: England und Italien.

Die Auslosung muss Herbergers Herz höher schlagen gelassen haben: Das günstigst Mögliche trat ein: Man kam in die Gruppe mit Ungarn und konnte so spektakulär gegen den erwarteten Endspielgegner verlieren und man hatte in der Gruppe als zweite gesetzte Mannschaft die Türkei, die wahrscheinlich schwächste aller gesetzten Mannschaften. Damit war das Weiterkommen auch nach einer Niederlage gegen Ungarn nicht so schwer.

Allerdings wurde damals noch nicht mit der Tordifferenz oder den geschossenen Toren oder dem direkten Vergleich bei Punktgleichheit entschieden, sondern es wurde ein Entscheidungsspiel ausgetragen. Dies musste dann auch Deutschland gegen die Türkei, aber alles ging gut, man konnte relativ leicht gewinnen und das zusätzliche Spiel in den Knochen belastete nicht so sehr, denn gegen Ungarn hatte Herberger eine Reservemannschaft antreten lassen.

Herberger konnte unmöglich eine Mannschaft mit dem Auftrag aufs Spielfeld schicken, spektakulär zu verlieren. Das hätte auch seine Ethik nicht zugelassen. So stellte er einfach eine Mannschaft gegen Ungarn, die im wesentlichen aus Reservespielern bestand. Gegen das hochmotivierte Ungarn hatte diese Elf nie eine Chnace. Die Niederlage mit 8:3 war aber eine tiefe Demütigung für das deutsche Nationalgefühl. Niemand verstand die Taktik Herbergers. Er wurde von der Presse und im Rundfunk in der Luft zerrissen.

Der Verteidiger Bauer von 1860 München, der bei einigen der 8 Tore der Ungarn nicht sehr gut aussah, hat später erzählt: „Nein, er hat uns nicht gesagt, wir sollen verlieren. Im Gegenteil, er hat uns noch einige Tipps gegeben, auf was wir besonders achten müssen. Aber wir waren eindeutig schwächer. Das war die beste Mannschaft der Welt, gegen die wir da spielten. Da waren die drei geschossenen Tore sogar noch ein Trostpflaster.“

Die heftige Kritik aus Deutschland nach der Niederlage gegen Ungarn nutzte Herberger nun, er „weckte und schürte Energien“, indem er den Spielern Ausschnitte aus den Kritiken vorlas, speziell jenen, die weit übertrieben in der Kritik, die Spieler persönlich angriffen und sogar zu Schimpftiraden, Schlägen unter die Gürtellinie und Obszönitäten griffen. Er schuf eine Athmosphäre von „wir allein gegen die ganze Welt“, von „denen werden wir es zeigen“, kurz: den ‚Geist von Spiez’ (die deutsche Delegation war in Spiez bei Bern untergebracht und lebte völlig abgesondert von der Umwelt. Es entwickelte sich eine Trotz- und Kampfstimmung, die später als der ‚Geist von Spiez’ bezeichnet wurde).

Diese Wut, dieser Kampfgeist zeigte sich in allen Spielen nach der vernichtenden Niederlage gegen Ungarn. Man gewann das zweite Spiel gegen die Türkei leicht mit 7:2, gewann das Viertelfinale gegen Jugoslawien mit 2:0 und vor allem, man gewann das Halbfinale gegen Österreich mit 6:1!

Angesichts der damals üblichen Ergebnisse des Offensivfußballs scheint dies nichts Aussergewöhnliches, aber es war es. Österreich war damals eine der Grossmächte des Fussballs. Österreich hatte in der Qualifikation Portugal mit 9:1 aus dem Wettbewerb geworfen, Österreich hatte in den Gruppenspielen der ersten Phase keinerlei Tor hinnehmen müssen, was außer diesem Team nur Uruguay gelang, Österreich würde wenige Tage später im Spiel um den dritten Platz das Weltmeister-Team von Uruguay niederringen, das vorher meistens als zweitbestes nach Ungarn angesehen wurde, vor allem aber hatte Österreich im Viertelfinale die Schweiz mit 7:5 besiegt, dem Spiel mit der höchsten Zahl der Tore der WM, das in die Geschichte als Hitzeschlacht von Lausanne einging. In diesem Spiel, so unglaublich das erscheinen mag, hatten die Schweizer nach 23 Minuten bereits 3:0 geführt, doch nach weiteren 12 Minuten lag Österreich mit 5:3 vorn! Fünf Tore in zwölf Minuten in einem Viertelfinale der Weltmeisterschaft, das muss den Österreichern erst einmal jemand nachmachen!

Nun, mag vielleicht jemand sagen, was ist schon die Schweiz? Aber damals war die Schweiz ebenfalls eine der Spitzenmannschaften. Sie war es nämlich, die Italien, den damals schon zweimaligen Weltmeister, aus dem Turnier befördert hatte mit zwei Siegen. Die Schweiz spielte den Riegel, das war ein erster schüchterner Versuch, eine etwas defensivere Spielweise anzuwenden, wenn auch dies immer noch innerhalb des Offensivfußballs stattfand. Italien war an diesem Riegel zweimal gescheitert, aber die Österreicher hatten ihn überwunden. Wer dieses Österreich mit 6:1 besiegt hatte, musste ein ernst zu nehmender Gegner im Endspiel sein.

Doch das hochfliegende Team Ungarns war solchen Erwägungen nicht zugänglich. Wer „einen Lauf hat“, d.h. er wird vom eigenen Selbstbewusstsein getragen zu immer neuen Höchstleistungen getrieben, der kann nicht gewarnt werden. Er wird einmal plötzlich auf Umstände und einen Gegner treffen, die ihn besiegen und dann wird das Heulen und Zähnknirschen umso lauter sein. Das war es, was mit Ungarn geschah.

Brasilien war von Ungarn relativ leicht ausgeschaltet worden – die Brasilianer hatten sich in persönliche Auseinandersetzungen verbissen, anstatt ihre Spielkraft auszuspielen. Im Halbfinale trafen die Ungarn auf den amtierenden Weltmeister Uruguay, damals eine absolute Spitzenmannschaft, die vorher die hoch eingeschätzten Engländer glatt mit 4:2 abgefertigt hatten. Zwar ging Ungarn, wie gewohnt, mit 2:0 in Führung, doch das Team musste in der regulären Spielzeit noch das 2:2 ninnehmen und in eine Verlängerung. Diese Verlängerung wurde äusserst schwer für die Ungarn, doch sie konnten mit zwei Toren des Torschützenkönigs Kocsis schliesslich mit 4:2 dominieren.

Diese Verlängerung im Halbfinale war eine weitere günstige Bedingung für die Deutschen im Endspiel, denn die Ungarn waren ausgelaugt von dieser Energieleistung. Eine deutliche Parallele zur WM 1970 in Mexiko, als Italien in eine schwere Verlängerung gegen Deutschland musste und darum im Endspiel gegen Brasilien nur eine Halbzeit mithalten konnte. Daraus entstand die Forderung, bei den WM mehr Zeit zwischen den Halbfinals und dem Endspiel einzubauen.

Die WM 1954 war die letzte Weltmeisterschaft des reinen Offensiv-Fussballs, wenn auch mit dem Schweizer Riegel schon die erste Andeutung der Entwicklung zum Defensiv-Fußball auftauchte. Bei der folgenden Weltmeisterschaft würde bereits mit Brasilien ein Team gewinnen, das nicht mehr fünf, sondern nur noch 4 Stürmer aufwies. Der Linksaussen Zagallo (heute der Mann mit der erfolgreichsten Fußball- und Trainer-Karriere aller Zeiten) war bereits zurückgezogen und war eigentlich ein Mittelfeldspieler. Wirklich defensiv wurde der Weltfussball aber erst, als die Italiener (Inter Mailand) Anfang der Sechziger Jahre den Cattenacchio erfanden und sich daraus dann mehr und mehr defensive Spielarten entwickelten bis zum heutigen Fußball, in dem gewinnt, wer die Anderen nicht spielen lässt.

Man kann heute mit den hohen Spielergebnissen von damals kaum noch etwas anfangen. Aber damals wurde das Spiel vorne gewonnen, nicht hinten, wie heute – jedenfalls in der Regel (wir werden noch eine Ausnahme beim Endspiel 54 kennen lernen). Oft wurden die Mehrzahl der Tore des Spiels in der ersten halben Stunde geschossen. Das hängt mit den damaligen Möglichkeiten zusammen, wie man die Spieler körperlich vorbereiten konnte, wie die Kondition der Spieler war. Es gab noch nicht die ausgefeilten Trainingsmethoden von heute. Die Spieler waren Amateure oder Halbprofis. Sie gingen einem Beruf nach. Die Fussballer hatten noch keine Lungen wie Engelsflügel und noch kein Herz von der doppelten Grösse eines normalen Menschen.

Die Entscheidung wurde schnell gesucht. Später im Spiel war man zu ausgelaugt, um noch Grosses zu vollbringen. Die heutige Maxime, der Ballführende muss sofort angegriffen werden, möglichst mit zwei Spielern, wäre damals nicht möglich gewesen. Das hätte niemand durchgehalten, jedenfalls nicht mehr als 10 Minuten. Damals gab es auch noch keine grosszügigen Auswechselungskontingente. Fast immer mussten Alle 90 Minuten durchspielen.

Kurz: Es war ein anderes Spiel. Darum erscheinen uns heute die Berichte von 1954 so fremdartig.

Ursprünglich war das Spielsystem im Fußball ein 2-3-5 gewesen: Zwei Verteidiger, drei Läufer und fünf Stürmer. Davon zeugen heute noch viele der benutzten Nummerierungen, z.B. wird die ‚7’ oft noch für einen Stürmer verwendet. Bis zur WM 54 hatten sich aber die Positionierungen schon verändert und es war das WM-System entstanden. Vorne wurde in einem ‚W’ positioniert, hinten in einem ‚M’. Der Mittelläufer, typischerweise für den gegnerischen Mittelstürmer zuständig, war von dessen vorgeschobener Position nach hinten gedrückt worden und war ein Mittelverteidiger geworden. Vor den drei Verteidigern spielten die beiden Aussenläufer ein defensives Mittelfeld. Im Sturm wurde die beiden Halbstürmer zurückgezogen und spielten das offensive Mittelfeld. Es war also eine Art von 3-2-2-3 oder 3-4-3-System.

Dies war in jenem Jahr DAS Fußball-System. Alle, auch die Ungarn, spielten WM-System. Im Spiel gegen Jugoslawien im Viertelfinale, bei dem alle Beobachter die deutsche Mannschaft irgendwie als „ofusk“ angesehen hatten, waren diese Positionen geändert. Das Spiel der deutschen Mannschaft war nicht ‚frei’, man spielte irgendwie viel zu zurückhaltend – die beiden Tore fielen mehr zufällig anstatt als logische Konsequenz vieler Angriffe.

Was war geschehen? Herberger hatte sein Spielsystem gegen Ungarn getestet. Eckel war als Manndecker nach hinten gezogen worden, Fritz Walter spiele extrem defensiv, praktisch wie ein defensiver Mittelfeldspieler, sein Bruder Ottmar hatte die Rolle des Ballverteilers im vorderen Mittelfeld übernommen, Schäfer blieb immer nahe der linken Aussenlinie und war so praktisch keine Stürmer mehr. Als Stürmer blieben nur Morlock und Rahn, wobei der letztere kaum an der rechten Aussenlinie blieb, sondern in die Mitte drängte. Dies war gegen Jugoslawien völlig unangebracht, aber Herberger brauchte mindestens ein Spiel, in dem die neue Positionierung erprobt wurde.

Nach dem Jugoslawien-Spiel, das als extrem schwache Vorstellung der Deutschen angesehen wurde, war die Kritik aus der Heimat noch schriller und ätzender geworden. Es wurde u.a. kritisiert, dass Herberger an Ottmar Walter festhielt, der absolut nichts gezeigt habe (er nahm ja nicht seine Position als Mittelstürmer ein). Berni Klodt solle für ihn in die Mannschaft. Herberger sagte nur, die verstehen gar nichts. Und das war es, die deutschen Sportjournalisten verstanden nicht, dass alles an Herbergers Taktik auf ein Endspiel gegen Ungarn ausgerichtet war, dass er nicht von Spiel zu Spiel dachte, sondern im wesentlichen an dieses Endspiel. Er nutzte die Kritiken erneut, um die Wut der Spieler noch zu steigern.

Im Film „Das Wunder von Bern“ wird das Endspiel fast völlig auf Rahns Tore reduziert. Das ist eine Verfälschung. Natürlich gibt Rahn von Rotweiss Essen einen idealen Ruhrgebietshelden ab und er schoss eben wirklich zwei der drei Tore im Endspiel. Aber das ist nur eine Seite.

Rahn war keineswegs der Beste auf seiner Position, genauso wenig wie Ottmar Walter, für dessen Position auch noch Berni Klodt auf der Bank sass. Die beiden waren dort, weil Herberger sie in seiner genialen Strategie benutzte. Ottmar Walter war einer der besten Mittelstürmer Deutschlands und verdiente, in dieser Mannschaft zu stehen, aber er war kein klassischer „Goal-Getter“, er war dort, weil er sich mit seinem Bruder Fritz und den anderen „Lauterern“ fast blind verstand, was Herberger in dieser Mannschaft brauchte.

Rahn war ein langsamer Spieler mit etwas behäbigen Bewegungen und wenig Technik. Aber er hatte das, was man als „Bums“ bezeichnete oder später als „Klebe“ oder „Wumme“, das was wir bis vor kurzem bei Roberto Carlos von Brasilien bewundern konnten, einen mächtigen Gewaltschuss – und er konnte ihn oft in die richtige Richtung bringen. Das ist mehr als man von vielen heutigen Bundesligaspielern sagen kann.

Herberger hatte ihn hereingenommen, weil er keinen anderen Spieler mit dieser Charakteristik hatte. Er war sich bewusst, irgendjemand hätte die Tore zu machen. Er hatte Max Morlock von 1. FC Nürnberg, der ein wirklicher „Goal-Getter“ war, aber der war mit seinem Sinn für den richtigen Ort im richtigen Moment mehr für jene Art von Abstauber-Toren zuständig, wie er eins im Endspiel zum 1:2 machte. Morlock, nicht etwa Rahn oder O. Walter, wurde Zweiter der Torjägerliste der WM 54! Aber Rahn war jener, der aus einer gewissen Entfernung Dinger aufs Tor loslassen konnte, die kaum ein Torwart halten konnte und der Torwart der Ungarn, Grosics, war nicht der stärkste.

Herbergers Sturm war damit mit allen Typen von Stürmern ausgerüstet, ein Gleichgewicht, das heute viele Trainer nicht herzustellen verstehen, nicht zuletzt, weil sie nur noch einen Stürmer haben.

Ganz links war Schäfer, über den fast alle Angriffe liefen und der viele von ihnen in Flanken in die Mitte umsetzen konnte. Alle drei deutschen Tore begannen mit Vorstössen von Schäfern, wobei allerdings beim ersten Tor von Morlock bis zum Tor eine Menge anderer Füsse dazwischen waren.

Halblinks war Fritz Walter, der Spielmacher, der Mann mit Übersicht und mit einem Blick fürs Spiel. Er war Herbergers Mann auf dem Spielfeld. Er verstand Herbergers Taktik. Er kommandierte auf dem Spielfeld, nicht einfach, weil er Kapitän war, sondern aufgrund seiner natürlichen Autorität als besonders herausragender Spieler. Er war mit Defensivaufgaben überbeansprucht in diesem Endspiel und verstärkte praktisch die Abwehr, kein Wunder bei einem so starken Gegner.

Der Mittelstürmer Ottmar Walter war mehr ein Aufbauspieler als ein Reisser. Er beschäftigte die Hintermannschaft der Ungarn und sorgte dafür, dass ständig Spieler in der Verteidigung bleiben mussten. Er hinterliess zwar keine unmittelbaren Spuren im Finale, war aber einer von denen, der die Ungarn mit ständigem Laufen mattspielte.

Halbrechts war Max Morlock, der sich in dieser Weltmeisterschaft als der Mann erwies, der vorne im richtigen Moment am richtigen Platz war. Sein Anschlusstor unmittelbar nach dem 2:0 der Ungarn war ausschlaggebend, dass sich keine ängstliche Stimmung in der deutschen Mannschaft verbreiten konnte.

Rechtsaussen war Helmut Rahn. Er spielte in Wahrheit keinen Rechtsaussen, sondern mehr einen Mittelstürmer, der sich meist weiter rechts aufhielt. Er bekam fast keine Bälle, um sie nach vorne zu tragen oder Flanken zu geben, denn in beidem war er nicht besonders gut. Er bekam in aussichtsreichen Positionen zweimal abgeprallte Bälle vor die Füsse und zögerte nicht abzuziehen, das waren zwei Tore für die Deutschen. Das macht ihn unsterblich.

Doch kommen wir, bevor wir wieder aufs Endspiel zu sprechen kommen, noch einmal auf die günstigen Umstände zurück.

Zu den schon genannten kamen im Endspiel nämlich zwei weitere:

Die erste: Puscas war leicht verletzt. Es ist nicht überliefert, was es für eine Verletzung war, aber Puskas spielte in diesem Spiel bei weitem nicht das, was er konnte. Das hing wohl auch mit einem starken Gegner zusammen, aber wahrscheinlich auch mit der Verletzung. Immerhin schoss Puskas das erste ungarische Tor, gleich nach sechs Minuten. Kurz vor Schluss gelang ihm aus Abseitsposition noch ein Beinahe-Tor. Er konnte aber das ungarische Spiel über die ganze Zeit nicht wie gewohnt antreiben und das war wohl eine deutliche Schwächung.

Der zweite günstige Umstand war – und das ist allgemein bekannt: Es regnete während des ganzen Finalspiels, es war „Fritz –Walter-Wetter“. Auf tiefem und von Pfützen bedeckten Grund konnte das typische ungarische Spiel mit einem raschen Ball-Laufen-Lassen von einem zum anderen nicht funktionieren, denn die kurzen Flach-Pässe bleiben in den Pfützen stecken. Zum anderen funktioniert das Eng-am-Fuß-Führen des Balls, während man vorwärts strebt, nicht wie gewohnt – aus dem gleichen Grund. Kurz: Die technische Überlegenheit Ungarns, die unbestreitbar ist, war praktisch eliminiert durch den Regen.

Damals gab es ja noch nicht die teppichartigen Rasenplätze, die heute dominieren. Auch die heutige Drainage-Technik, die das Entstehen von Pfützen verhindert, war noch unbekannt.

Was das mit Fritz Walter zu tun hat? Eigentlich wenig. Nur indirekt. Fritz Walter war Spielführer von zwei Mannschaften, die nicht unbedingt durch viel Technik glänzten, dem 1. FC Kaiserslautern und der damaligen deutsche Nationalmannschaft. Er selbst war sehr wohl ein technischer Spieler, der gut in eine Mannschaft wie die der Ungarn gepasst hätte, aber die von ihm geführten Mannschaften konnten immer froh sein, wenn es regnete und die technischen Vorteile des Gegners nicht zum Zuge kamen. So kam es zum Begriff des Regens als „Fritz –Walter-Wetter“.

Ganz nebenbei gab es noch einen kleinen günstigen Umstand für die deutsche Elf: Kurz vor dem Finale hatte Adi Dassler, der damalige Besitzer von Adidas, den Fussballschuh mit Schraubstollen erfunden, der den deutschen Spielern zur Verfügung stand. Man konnte im Regen längere Stollen einschrauben und hatte dann einen geringfügigen Vorteil in der Standfestigkeit.

Als die Ungarn also aufliefen, hätten sie eigentlich gewarnt sein müssen. Sie standen dem Gegner gegenüber, der Österreich mit 6:1 abgefertigt hatte, sie hatten einen verletzten Spielführer, sie waren noch von der Verlängerung gegen Uruguay ausgelaugt, sie spielten im für sie ungünstigen Regen und sie hatten einen bis in die Haarspitzen motivierten Widersacher vor sich. Doch die Aussagen, die einige der ungarischen Spieler später machten, waren klar: Obwohl sie sich im Grunde dieser Tatsachen bewusst waren, dominierte doch in ihrem Unterbewusstsein die Gewissheit der Überlegenheit, stand man nicht einer ungesetzten Mannschaft gegenüber, hatte man denn nicht Deutschland zwei Wochen vorher mit 8:3 deklassiert? Offenbar hatte Trainer Sebes nicht oder nicht ausreichend deutlich gemacht, wie gefährlich dieser Gegner war. Herbergers Rechnung begann aufzugehen.

Aber auch wenn Sebes gewarnt hätte, bleibt zu bezweifeln, ob irgendetwas anders gelaufen wäre. Das schnelle ungarische Spiel auf höchstem Niveau war nur mit prallem Selbstbewusstsein möglich – und so beisst sich die Katze in den Schwanz.

Innerhalb von 8 Minuten führte Ungarn 2:0. Das hätte die Zuversicht von fast jedem unterminiert, nicht aber dieser deutschen Mannschaft, die es immer noch ‚Allen zeigen’ musste und wollte. Zwei Minuten nach diesem 2:0 gelang Morlock bereits das Anschlusstor, weitere 8 Minuten später Rahn der Ausgleich.

Doch gehen wir noch einmal zu den zwei Minuten zurück, die Ungarn 2:0 führte. Der Mitteläufer der Ungarn Lorant, der später lange Zeit Trainer in Deutschland war, sagte nämlich später: „In diesem Moment hatten wir das Spiel verloren.“ Nicht etwa, als der 2:2-Ausgleich fiel, nein, mit dem 2:0.

Was wollte er sagen?

War man vielleicht mit einem bestimmten Vorbehalt ins Spiel gegangen, ob sich der Gegner nicht doch als schwer herausstellen würde, ob man erneut höchste Schwierigkeiten haben würde zu gewinnen wie gegen Uruguay, so atmete jeder in der Mannschaft mit dem 2:0 innerlich auf. Nein, nichts dergleichen, Deutschland war nicht besser als die Ersatzmannschaft, man hatte alles im Griff, man würde das Ding souverän heimschaukeln. Innerlich, ohne es zu merken, wurde der absolute Fokus auf das Ziel etwas gelockert, es wurde sich erleichtert zurückgelehnt – jedenfalls ihm übertragenen Sinn. Damit hatten die ungarischen Spieler das Einzige verloren, das ihnen auch in dieser Situation noch den Sieg garantiert hätte: Die absolute Konzentration auf jede einzelne Szene des Spiels, der Einsatz von allem, was möglich war, der absolute Fokus.

Ob dies Herberger auch so geplant hatte? Ungewiss. Er konnte unmöglich absichtlich eine ungarische 2:0-Führung provoziert haben, allerdings war das typisch für das ungarische Spiel. Dies kam nun aber in idealer Weise seinen Absichten zupass, speziell, weil der deutschen Mannschaft schnell der Ausgleich gelang. Während des ganzen Spieles konnten die Ungarn nicht zurückfinden zur absoluten Konzentration, die hier nötig gewesen wäre. Das hatte Lorant gemeint mit: „Nach dem 2:0 hatten wir das Spiel verloren.“

Das ist eine alte psychologische Erkenntnis: Ist man mit einer bestimmten Haltung (zum Beispiel der sträflichen Unterschätzung des Gegners) ins Spiel gegangen oder hat man diese Haltung nach kurzer Zeit im Spiel angenommen, so gelingt es nicht so einfach, während des Spiels diese Haltung zu ändern.

Das heißt natürlich nicht, dass Ungarn nicht noch hätte gewinnen können. Es hatte auch genug klare Chancen dazu. Hidegkuti knallte einen Ball an den Pfosten, Kocsis einen an die Latte, Turek hielt einige „Unmögliche“ und der Schiedsrichter hätte das Abseits von Puskas bei seinem Tor kurz vor Schluss nicht gesehen haben können. Aber auch das mag mit der Psycholgie zu tun haben. Ist man nicht völlig fokussiert, kommt mit fortlaufendem Spiel Panik auf, eventuell zu verlieren, so geht die Genauigkeit leicht verloren.

So kam es denn zur Szene sechs Minuten vor Schluss: Schäfer (immer er) führte einen Angriff nach vorne, flankt auf Morlock, doch ein ungarischer Kopf ist dazwischen und der Ball springt zu Rahn, der fast genau am rechten Strafraumeck steht. Der Sportreporter Zimmermann, dessen Reportage am Radio dieses Spiels zur Legende geworden ist, brüllt ins Mikrofon: „Rahn müsste schiessen!“ Dann, fast etwas überrascht, dass man seine Anweisungen befolgt: „Er schiesst!“ und danach hört man ihn nur noch schreien „Tor! Tor!“, so als sei er ein brasilianischer Rundfunkreporter.

Rahn hatte mit einem trockenen und harten Flachschuss vollstreckt.

Also doch Rahn der Matchwinner? Oder hat Morlock mehr Anteil? Oder Schäfer? Nichts dergleichen!

Der deutsche Sturm hatte in Wirklichket nicht mehr Tore gegen Ungarn fertiggebracht als die Ersatzmannschaft kurz vorher, nämlich drei. Was geschah, war, die deutsche Hintermannschaft hat diesmal keine acht eingesteckt, sondern nur zwei.

Sehen wir uns also diese Hintermannschaft näher an: Hier dominiert der Mittelläufer Liebrich, ebenfalls von Kaiserslautern, der zudem zwei weitere Lauterer, Kohlmeyer und Eckel, zur Seite hat. Die drei bilden das Rückgrat. Wer viel hinten aushilft, ist zudem Fritz Walter.

Eckel ist der direkte Gegenspieler von Puskas und er neutralisiert ihn über grosse Teile des Spiels. Da ist natürlich auch Puskas’ Verletzung, aber im Endeffekt geht das Duell trotz Puskas’ Tor und seinem Abseits-Tor unentschieden aus. Der Torjäger Kocsis war meist bei Kohlmeyer gut aufgehoben, abgesehen von wenigen Szenen, aber er macht keine Tor, dafür produzierte Kohlmeyer ein Missverständnis mit Torhüter Turek, das zum 2:0 führte, also nur ein Unentschieden für Kohlmeyer.

Liebrich selbst dirigiert nicht nur die Hintermannschaft, sondern dominiert auch Mittelstürmer Hidegkuti, bis auf eine Szene. Aber auch der macht kein Tor, also 1:0 für Liebrich. Mihály Tóth, der Halbrechts, ist bei Karl Mai von der SpVgg Fürth gut aufgehoben. Mai macht das Spiel seines Lebens, auch 1:0 für ihn. Schliesslich noch das Duell zwischen Jupp Posipal vom Hamburger SV und Szíbor, dem Linksaussen (die zwei waren früher einmal in Rumänien in die gleiche Schule gegangen). Szíbor ist für das zweite Tor der Ungarn zuständig, aber sonst auch in guten Händen, auch hier ein unentschieden. Dazu kam Turek im Tor, von Fortuna Düsseldorf. Er hat zwar ein wenig Mitschuld an dem 2:0 für Ungarn, aber was hielt er alles! Reporter Zimmerman nannte ihn einen Fussballgott. Mit anderen Worten, die deutsche Hintermannschaft hat das Spiel gewonnen!

Auf einem Fussballstammtisch, der damals eine Anzahl der Mitglieder der deutschen Delegation in der Schweiz zusammenführte, wurde, einige Zeit nach dem Triumph, Herbergers Tatktik analysiert. Er hatte mit Eckel als Bewacher von Puskas, der ja sehr weit vorne spielte, praktisch einen vierten Verteidiger eingeführt. Er spielte mit einer Viererkette in der Abwehr! Kommt das jemand bekannt vor? Davor hatte er zwei defensive Mittelfeldspieler, Fritz Walter und Mai – und vor ihnen zwei offensive Mittelfeldspieler, Ottmar Walter und Schäfer. Als Stürmer blieben in Wirklichkeit nur Morlock und Rahn. Herberger spielte gegen Ungarn 4-4-2! Das ist genau das System, das heute viele Nationalmannschaften benutzen, so unter anderen die brasilianische.

Herberger hatte zum ersten Mal in einem wichtigen Spiel der Fussballgeschichte ein defensives Spielsstem verwendet und zum ersten Mal bewiesen, es kann über ein offensives System triumphieren. Herberger ist der Erfinder des Defensiv-Fussballs.

Wunderwankdorf Bern…Wankende Wunder im Dorf Bern…Berns wankendes Wunderdorf...

sport

Ex und hopp – Achter versenkt

Hanns Fuchs – Alexander Ruckstuhl, 36, ist als SRV-Verbandstrainer per sofort freigestellt und auf Ende März 2008 entlassen. Das liessen SRV-Direktor Lukas Rieder, 50, und Chef Leistungssport Heinz Schaller, 50, am Dienstag über die Medien mitteilen. Ruckstuhl war der Baumeister des ambitionierten Schweizer Acherprojekts. Mit seiner Freistellung und Entlassung versenkt der Schweizerische Ruderverband acht Monate vor der letzten Selektionsmöglichkeit für die olympischen Spiele in Beijing sein eigenes Flaggschiff.


Quotenplatz knapp verpasst: An der WM in München fuhr der «Alpenachter» auf Platz drei hinter China und Australien und damit auf Schlussrang neun statt sieben. Die objektiv gute Leistung war der Anfang vom Ende des ehrgeizigen Projekts.

Die Schweizer Zeitungen berichten heute praktisch Flächen deckend über den «Eklat um den Achter» (Der Bund, Berner Zeitung), vermelden «Achter vor Auflösung» (Basler Zeitung) oder zumindest «Achter-Projekt stark gefährdet». Natürlich würde man gerne die offizielle Begründung der Verbandsleitung für diesen Radikalschnitt kennen. Dem SRV ist der Vorgang aber anscheinend nicht der Rede wert. Auf der SRV Homepage heisst es auch heute, einen Tag nach der Freistellung und Kündigung lapidar: «Keine aktuellen Informationen». Dafür liest man auf der Homepage des Männerachters ziemlich viel und vor allem auch bittere Worte. Es lohnt sich auch ein Blick ins Gästebuch – dort hagelt es Vorwürfe an die Verbandsleitung und die Enttäuschung über den Untergang des Schweizer Achterprojekts ist mit Händen zu greifen.

Mobbing-Opfer
Die Darstellung aus der Sicht der betroffenen Athleten legt die Frage nahe, ob Ruckstuhl ein Mobbing-Opfer geworden ist. Anscheinend wurde ihm das Vertrauen schleichend entzogen. Im nachhinein wird man dann wohl aus Sarnen hören, die Chemie zwischen Headcoach Tim Foster und Verbandstrainer Ruckstuhl habe nicht gestimmt. Den Auftakt zu dieser Lesart macht heute Paul Kölliker in seinem Artikel in der NZZ. Meiner Meinung nach lässt sich der abrupte Abbruch des Achterprojekts nicht auf Abgrenzungs- und Kompetenzprobleme zwichen Headcoach und Verbandstrainer reduzieren – es wäre nicht das Niveau von Profis. Sollte es aber tatsächlich tief gehende Meinungsverschiedenheiten zwischen Headcoach und Verbandstrainer gegeben haben, wäre es Pflicht erstens des SRV-Direktors, zweitens des Chef Leistungssport und drittens des SRV-Präsidenten gewesen, die beiden ins gleiche Boot zu bringen.

Arbeitsverweigerung
Auslöser für den Eklat war nach Lesart Rieders die Tatsache, das drei Athleten nicht zum Trainingslager nach Sevilla einrückten. Man könnte das Arbeitsverweigerung nennen. Auch hier wäre es Pflicht der Verbandsverantwortlichen (Reihenfolge siehe oben) gewesen, zu vermitteln, zu versöhnen, zu motivieren, kurz: das Projekt zu retten. Das allerdings würde kommunikative Kompetenz voraussetzen. Stattdessen reiste SRV-Direktor Lukas Rieder nach Sevilla, um Ruckstuhl und den sechs Achterathleten im Trainingslager die bad news zu überbringen – ziemlich viel Aufwand für einen Scherbenhaufen.

Tohuwabohu seit acht Jahren
Mit der Versenkung des Achter hat das Tohuwabohu (völliges Durcheinander, Wirrwarr, Chaos) im SRV einen neuen, schon fast suizidalen Höhepunkt erreicht. Denn versenkt werden mit dem Achterprojekt auch Glaubwürdigkeit, strategische Führungsstärke und Klarheit in der operativen Führung. Der Männerachter war explizit als Langzeitprojekt lanciert worden – mit Zielsetzung Olympia 2012 und Zwischenziel Olympia 2008. Der lange Atem ist dem Verbandskörper nun schon nach der ersten Enttäuschung ausgegangen.

Seit den olympischen Spielen 2000 geht’s im SRV-Leistungssport bergab, seit 2004 in zunehmendem Tempo. Einzige Konstante auf dem Weg ins leistungssportliche Niemandsland war der Personalwechsel im Trainerboot: Mal gab man Geld für die Fernbehandlung durch einen «Berater» (Eberhard Mund, Paris) aus, dann nahm der Verband die Projekttrainer stärker in die Pflicht, dann wurde René Mijnders als Headcoach verpflichtet (um nach einem Jahr festzustellen, dass er «ein guter Bootstrainer, aber nicht mit Headcoach-Qualitäten» sei) und danach als Achter-Berater unter Vertrag gehalten, dann wurde Alexander Ruckstuhl als Verbandstrainer für den Achter verpflichtet, vor einem Jahr wurde Tim Foster als Headcoach unter Vertrag genommen, jetzt wird ihm das auf Grund gesetzte Achterprojekt ins Dossier gelegt. Nachwuchstrainer Ueli Bodenmanns Feuer für den Job in Sarnen war nach vier Jahren «erloschen», wie er selber sagte. Seither gibt’s im SRV keinen Verbandstrainer für den Nachwuchs mehr. Am Coupe de la Jeunesse fuhren die Jungen um Seemeilen neben der hochmütigen Zielsetzung (sechs Medaillen) vorbei.

Sponsoren-Bashing
Und jetzt also: der Achter versenkt. Wenn’s wahr ist, was der Tages-Anzeiger schreibt, erfuhr auch der Projektsponsor «Hochdorf» aus den Medien von der Zerschlagung des Flaggboots. Ohne Achter kein Geld, wird man in Hochdorf zu Recht beschliessen. Andere potentielle Sponsoren werden ihr Interesse am Rudersport erschreckt relativieren – wer will schon risikieren, dass mit seinem Geld auch noch das Image versenkt wird. Und bei Swiss Olympic wird man sich fragen, was von einem Verband zu halten ist, der sein eigenes Flaggboot versenkt. Vielleicht verbucht man das alles aber in der Verbandsleitung als Kollateralschaden.

Dieser Artikel erschien erstmalig bei Hanns Fuchs

sport

Brasilien: São Paulo ist Meister

Karl Weiss – Bereits 5 Spieltage vor Schluss ist der São Paulo F.C. nun auch rechnerisch Meister der A-Serie der brasilianischen Fussballmeisterschaft. Mit einem Sieg gegen Sport Recife im heimischen Morumbi-Stadion mit Anrecht auf eine Freistoß-Tor des Torhüters Sene wurde endgültig abgesegnet, was bereits seit dem Sieg gegen den damaligen Haupt-Verfolger Cruzeiro Belo Horizonte klar war: Der Club aus der größten Stadt südlich des Äquators hat mit Abstand die beste Saison hingelegt.


Geheimnis der Meister

Das Geheimnis der Mannschaft ist die Abwehr und der Torhüter. Dies wird deutlich, wenn man die Zahl der geschossenen und erhaltenen Tore ansieht. In der aktuellen Tabelle vom Abend des 4. November 2007, mit 3 Spieltagen ausstehend, hat São Paulo nur 13 Tore in der ganzen Saison hinnehmen müssen und 14 Punkte Vorsprung vor dem Zweiten. Der zweitbeste in dieser Spalte ist Fluminense Rio de Janeiro, heute Sechster, mit 34 Gegentoren!

Obwohl Torhüter Rogerio Sene, der Freistöße schießen kann wie sonst (fast) nur noch Ronaldinho, schon nicht mehr der jüngste ist, gehen Gerüchte um ein Angebot aus Europa für ihn um. Da allerdings nach allgemeiner Kenntnis Mailand keinen dritten großen Club hat, sind seine Chancen für einen lukrativen Europa-Vertrag wohl gering. (Anmerkung: Die beiden anderen überragenden brasilianischen Torhüter, Dida und Julio Cesar, spielen bei den beiden mailändischen Vereinen A.C. respektive Inter.)

Der Angriff des Meisters dagegen ist nur durchschnittlich: Mit 51 erzielten Toren bleibt man hinter dem besten Sturm, dem von Cruzeiro, jetzt Dritter (71), hinter Náutico Recife, Fünfzehnter (61), Botafogo Rio de Janeiro, Achter (56), Santos, heute Zweiter (52), Flamengo Rio de Janeiro, Vierter (52), Sport Recife, Dreizehnter (52), Atlético Mineiro Belo Horizonte, Vierzehnter (52 und gleichauf mit einer Anzahl anderer Clubs, darunter dem Elften, Figuerense Florianópolis.

Der Meister in seiner besten heutigen Besetzung kann auf internationalem Niveau absolut mithalten, auch wenn keine einziger der Spieler über das Land hinaus bekannt ist. Das wurde belegt, als sich São Paulo vor kurzem in der Copa Sulamericana gegen Libertadores-Sieger Boca Juniors Buenos Aires durchsetzte. Man könnte heute auf gleicher Augenhöhe einen F.C. Bayern München, Barcelona, A.C. Mailand oder Real Madrid begegnen.

Damit ist São Paulo gleichzeitig auch Rekordmeister mit 5 Meisterschaften. Brasilianische Meisterschaften, bis vor vier Jahren noch als Turniere ausgetragen, gibt es erst seit 1971.

Allerdings gibt es eine Polemik über das Jahr 1978, in dem 13 Vereine eine eigene „Gegenliga“ aufmachten und ihren eigenen Meister kürten, damals Flamengo. Der „offizielle“ Meister des Fussballverbandes war dagegen Sport Recife. So kommt es, dass der Verband für Flamengo nur 4 Meisterschaften zählt, während alle Anhänger von Flamengo wissen, man hat 5 Meisterschaften gewonnen und São Paulo hat jetzt lediglich aufgeholt.

Was jetzt noch offen ist und an den letzten drei Spieltagen für viel Aufregung sorgen wird, ist, wer sich mit den Plätzen zwei, drei und vier für die Libertadores des nächsten Jahres qualifizieren wird, wer in der zweiten Jahreshälfte an der Copa Sulamericana teilnehmen darf (Plätze 5 bis 11) und wer in den sauren Apfel beissen muss und absteigen.

Im Moment sind es Santos, Cruzeiro und Flamengo, mit nur vier Punkten Abstand zwischen ihnen, die auf den Libertadores-Plätzen stehen. Dabei ist Flamengo allerdings nur durch das Torverhältnis von zwei Verfolgern getrennt, Palmeiras São Paulo und dem Lokalrivalen Fluminense.

Im Abstieg steht bereits fest, América Natal und Juventude Caxias do Sul müssen im nächsten Jahr in der B-Serie antreten. Die beiden anderen Abstiegsplätze sind aber heftig umkämpft.

In einer Energieleistung hat Paraná Curitiba, das fast schon abgeschlagen auf dem drittletzten Platz lag, durch mehrere Siege, zuletzt gegen den Mitkandidaten Goiás Goiánia, Anschluss gefunden und ist heute Punktgleich mit Goiás, das nun auf dem viertletzten Platz liegt. Corinthians São Paulo, vor zwei Jahren noch Meister, nach Flamengo der Verein mit der größten Anhängerschaft in Brasilien, konnte am letzten Sonntag mit dem Ausgleich in der 92. Minute einen wertvollen Punkt gegen den Tabellen-Neunten, Atlético Paranaense Curitiba erringen und liegt jetzt einen Punkt vor dem Abstiegsplatz. Aber es ist noch nichts entschieden.

Die beiden anderen Abstiegsplätze werden zwischen Náutico, Corinthians, Goiás und Paraná ausgetragen, wobei es am 11.11. noch zu einem 6-Punkte-Spiel zwischen Goiás und Corinthians auf der Serra Dorada in Goiás kommen wird.

Die besten Chancen zu entkommen hat wohl Náutico, mit den meisten Punkten, mit zwei Heimspielen, u.a. noch gegen den abgeschlagenen Tabellenletzten América. In höchster Not ist Paraná, das noch zwei Auswärtsspiele hat, die geringste Punktzahl und das Heimspiel gegen den Zweiten Santos. Zwischen Goias und Corinthians dürfte der viertletzte Platz vergeben werden. Dieses Duell kann Goiás bereits am kommenden Sonntag in der direkten Begegnung für sich entscheiden. Sollte dem Meister in Unentschieden Corinthians (bereits 12 Unentschieden in dieser Saison) aber in Goiánia wieder ein Unentschieden gelingen, ist alles offen.

Inzwischen wurden auch die nächsten Spiele in der diesjährigen Copa Sulamericana ausgetragen.

Die beiden letzten brasilianischen Vereine sind bereits ausgeschieden. Vasco Rio de Janeiro konnte erwartungsgemäss die 2: 0 – Niederlage in Mexiko-Stadt gegen America nicht wettmachen, gewann nur 1: 0 und schied aus. São Paulo musste dagegen büssen, dass das entscheidenden Spiele gegen die Millionarios aus Kolumbien mit einer Ersatzmannschaft bestritten werden musste, weil man gerade in einer kritischen Phase in der Meisterschaft war und die brasilianische Meisterschaft Vorrang hatte. Zu Hause verlor man 1: 0 und auf der Höhenlage von 2500 m in Bogota sogar 2: 0 und war damit auch draussen.

In den anderen beiden Viertelfinalen setzten sich die beiden verbliebenen argentinischen Vereine durch. Arsenal konnte überraschend mit einem 3:1-Auswärtssieg Chivas aus Mexiko ausschalten, während River Plate Buenos Aires trotz der Verlegung der Spiele mit dem uruguayanischen Vertreter Defensor Montevideo auf Zeitpunkte nach allen anderen Spielen mit einen 2:2-Unentschieden auf der anderen Seite des Rio de la Plata ein gutes Ergebnis erzielen, das zu Hause dann ein 0:0 –Unentschieden wegen der Auswärtstore zum Weiterkommen ausreichen liess.

Im Halbfinale treffen jetzt die beiden argentinischen Vertreter aufeinander, mit Hinspiel in Buenos Aires am 7.November und dem Rückspiel in Sarandí am 14. River Plate ist Favorit. Es wird also auf jeden Fall ein argentinischer Vertreter im Endspiel stehen.

Im zweiten Halbfinale trifft America Mexiko-Stadt auf die kolumbianischen Millionários, was eigentlich kein Problem für den mexikanischen Meister darstellen dürfte. Die Höhenlage in Bogota, die dem kolumbianischen Club immer einen Vorteil gab, greift ja gegen den Verein aus der mexikanischen Hauptstadt nicht, denn die liegt noch höher. Zudem ist das Rückspiel in Mexiko.

Damit sind zwei Endspiele zwischen River Plate Buenos Aires und America Mexiko-Stadt am 29. November und 5. Dezember zu erwarten. Favorit ist America, zumal es das Rückspiel wieder in der Höhenlage in Mexiko-Stadt haben würde.

sport

Fußball – Brasilien und Südamerika; Noch sechs Länder in der Copa Libertadores vertreten

Karl Weiss – Der Mai ist gekommen…. Für den brasilianischen Fussball heißt das, die regionalen Meisterschaften sind abgeschlossen, es beginnt die brasilianische Meisterschafts-Runde. Der brasilianische Pokal steht auch schon in der Endphase. In Südamerika tritt die Copa Libertadores, das Gegenstück zur Champions Leage, mit den Viertelfinalen in die entscheidenden Spiele.

Zunächst zu den regionalen Meisterschaften in Brasilien: Aus langer Tradition, als man überhaupt keine brasilianischen Meisterschaften hatte, werden in Brasilien immer noch regionale Meisterschaften in den einzelnen Bundesstaaten ausgetragen. Das ist natürlich bei den kontinentalen Ausdehnung des Landes auch kein Wunder. Allein der Staat, in dem der Berichterstatter lebt, Minas Gerais, ist bereits deutlich grösser als Deutschland – und das ist nur einer von 26.

Die Entfernungen der nun beginnenden brasilianischen Meisterschaft sind denn auch beeindruckend. Bis vor kurzem, als noch Paysandú, ein Verein aus Belém an der Mündung des Amazonas, fast genau auf dem Äquator gelegen, in der ersten Liga war, musste ein Flugzeug von dort bis Porto Alegre im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul, wo im Winter schon einmal Temperaturen unter Null Grad vorkommen und wo es zwei Traditionsvereine gibt, etwa 4500 Kilometer zurücklegen, das ist mehr als die grösste Nord-Süd– oder Ost-West-Ausdehnung Europas.

In den Regionalmeisterschaften (eigentlich Staatsmeisterschaften) von Februar bis Anfang Mai müssen sich also die Traditionsclubs der ersten Liga mit zweit- und drittklassigen Vereinen herumschlagen, die aus ihrem Staat kommen. Das geht keineswegs immer zugunsten der Erstligavereine aus.

So hat z.B. in diesem Jahr im südlichen Bundesstaat Paraná, wo es in der Hauptstadt Curitiba drei Erstligavereine gibt, der Drittligaclub Paranavaí die Meisterschaft gewonnen, zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte, im Endspiel gegen einen der Traditionsvereine, Paraná Clube.

Auch in Goiás im Landesinneren Brasiliens, wo es mit Goiás einen Club der ersten Liga gibt, der noch im letzten Jahr mit um die Libertadores, die südamerikanische Vereinsmeisterschaft spielte, war dieses Mal ein Club aus der dritten Division erfolgreich, Atlético Goiás, nach 19 Jahren erneut Staatsmeister.

Zweitligaverein mit Überaschung
Im Endspiel im Staat São Paulo, der allgemein als am stärksten eingeschätzten regionalen Meisterschaft, hätte fast ein Zweitligaverein eine Überraschung geschafft, São Caetano, Ende letzten Jahres aus der Ersten Division abgestiegen und nun sicherlich einer der Favoriten für die Meisterschaft der Zweiten Liga. Man hatte im ersten Finalspiel den Favoriten Santos 1:0 geschlagen, musste dann aber im Rückspiel eine 2:0-Niederlage einstecken.

Santos, nun erneut einer der Mitfavoriten um die jetzt beginnende brasilianische Meisterschaft, ist neu formiert, nachdem man im vergangenen Jahr ebenfalls die São Paulo-Meisterschaft gewonnen hatte, aber dann in der brasilianischen Runde nicht in den Kampf um die Meisterschaft eingreifen konnte. Man hat weiterhin den Erfolgstrainer Luxemburgo unter Vertrag, der vorher Real Madrid trainiert hat, und kann sich jetzt vor allem auf den von den Bayern heimgekehrten Zé Roberto stützen, von dem noch zu reden sein wird.

In der Rio-Staatsmeisterschaft schaffte es diesmal keiner der „Kleinen“ ins Endspiel. Die beiden Traditionsvereine Flamengo und Botafogo machten in zwei mitreißenden Begegnungen die Meisterschaft unter sich aus. Nach zweimal 2:2 musste das Elfmeterschießen entscheiden, aus dem schließlich Rekord-Meister Flamengo, der Verein mit den meisten Anhängern in Brasilien, als Sieger hervorging.

Symboltier des Vereins: Der Hahn
Im Staat, aus dem berichtet wird, Minas Gerais, hat Atlético Mineiro, eben aus der Zweiten Liga als deren Meister in die erste Division zurückgekehrt, den Erzrivalen Cruzeiro im ersten Endspiel mit einer überraschenden Leistung mit 4:0 vom Platz gefegt. Zwar schaffte Cruzeiro im Rückspiel einen 2: 0-Erfolg, aber das reichte eben nicht. Damit hat Atlético, mit der zahlreichsten Anhängerschaft in Minas Gerais, nach 2000 endlich einmal wieder die Regionalmeisterschaft gewinnen können, nachdem die für lange Zeit fast immer an den Lokalrivalen Cruzeiro ging. Am Sonntagabend hallten hier in Belo Horizonte noch lange die Rufe „Galo“ durch die Stadt. „Galo“, das ist der Hahn, das Symboltier des Vereins. In Brasilien habe viele Vereine Symboltiere, Cruzeiro zum Beispiel die Füchsin. Einer, Palmeiras São Paulo, hat sogar das Schwein zum Symbol.

Im äußersten Süden Brasiliens, wo gestern Temperaturen von 3 Grad herrschten, in Rio Grande do Sul, konnte es der Vereinsweltmeister Internacional Porto Alegre, der im Dezember noch Barcelona im Endspiel besiegt hatte, nicht schaffen, auch nur ins Endspiel der regionalen Meisterschaft zu kommen. Man ist im Moment in einer schwachen Phase, wovon auch noch zu reden sein wird. Die beiden Endspiele wurden stattdessen von den beiden anderen Erstligaclubs aus dem Staat, Gremio Porto Alegre und Juventude Caxias do Sul, ausgetragen. Gremio, in einer hervorragenden Spiellaune, schaffte mit einem 4:1 die Meisterschaft, nachdem das Hinspiel noch 3:3 ausgegangen war.

Einige weitere Staatsmeister:
In Bahia gewann der ebenfalls nun in die erste Liga zurückkehrende Traditionsverein Vitória in der einzigen Meisterschaft, die nach Punkten und nicht im Turniermodus ausgetragen wurde, mit 5 Punkten Vorsprung vor dem Lokalrivalen Bahia, einem Traditionsclub, der eben in die dritte Liga abgestiegen ist.

In Ceará konnte der Traditionsclub Fortaleza gegen Icasa die Oberhand behalten.

In Santa Catarina, dem Bundesstaat, der stark durch deutsche Einwanderung geprägt ist, gewann Chapecoense nach 11 Jahren einmal wieder eine Meisterschaft, während der herausragende Club des Staates, Figuerense leer ausging. Man kann sich aber mit dem Halbfinale de brasilianischen Pokals trösten.

Damit sind wir denn auch schon beim Pokal. Am 16. und 23. Mai werden die beiden Halbfinals ausgetragen und bereits am 30. Mai wird der Sieger ermittelt. Das erste Halbfinale ist zwischen dem Rio-Traditionsverein Fluminense und der besten Mannschaft aus Brasilia, Brasiliense. Das zweite führt einen anderen Traditionsverein aus Rio, Botafogo, der eben den Minas-Meister Atlético in einem Spiel mit stark umstrittenen Schiedsrichterleistungen 2:1 ausgeschaltet hat, gegen jene Mannschaft aus Santa Catarina, Figuerense. Alle „Grossen“ aus São Paulo, Rio Grande do Sul, Minas und Paraná sowie die beiden anderen Traditionsvereine aus Rio sind also bereits eliminiert.

Nun zur Copa Libertadores, dem Gegenstück der Champions Leage in Südamerika. Genau gesagt, ist es eigentlich eine Vereinsmeisterschaft Südamerika plus Mexiko, denn der südamerikanische Verband lädt jedes Jahr den mexikanischen Pokalsieger und die beiden ersten der mexikanischen Meisterschaft ein teilzunehmen.

Die Gruppenphase war bis zum 19. April durchgeführt worden.In ihr war bereits der Vereinsweltmeister und letztjährige Sieger Internacional Porto Alegre ausgeschieden, der tatsächlich nach der Weltmeisterschaft ein tiefes Tal durchläuft. In die Achtelfinale gingen dann 5 Teams aus Brasilien (wobei zwei bereits gegeneinander kamen), 3 aus Mexiko, 2 aus Argentinien (die ebenfalls gegeneinander kamen), 2 aus Uruguay und jeweils einer aus Paraguay, Venezuela, Chile und Kolumbien.

Nun sind soeben die Achtelfinalspiele beendet worden. Wie auch in der Champions Leage, bewahrheitete sich einmal mehr die alte Weisheit, das erste Spiel ist meist ausschlaggebend. Wer sich eine gute Ausgangsposition geschaffen hat, überlebt meistens auch am Ende. Sei es, dass man auswärts ein Unentschieden schafft oder nur mit einem Tor Unterschied verliert, sei es, dass man zu Hause einen Sieg mit mindestens zwei Toren Unterschied vorlegt. In den acht Achtelfinalspielen gab es nur eine Ausnahme von dieser Regel. Im Spiel zwischen Necaxa aus Mexiko und Nacional aus Uruguay hatte Nacional nur ein 3:2 zu Hause geschafft. Im Rückspiel aber konnte das Team mit 1:0 in Mexiko gewinnen und qualifizierte sich.

Die brasilianischen und argentinischen Vereine scheinen dieses Jahr nicht so zu dominieren, wie es früher schon vorkam.

Boca Juniors Buenos Aires und Velez Sarsfield überlebten
Die Reihe der 4 argentinischen Vereine lichtete sich überraschenderweise schon in der Vorrunde und dann weiter in den Gruppenphase. Nur Boca Juniors Buenos Aires und Velez Sarsfield überlebten, kamen aber gleich gegeneinander. Boca Juniors behielt die bessere Seite für sich und ist nun der einzige argentinische Vertreter, gleichzeitig einer der Titelfavoriten. Sie werden gegen den starken paraguayischen Verein Libertad antreten müssen.

Aus der brasilianischen 5er-Phalanx schied nicht nur São Paulo aus, das gegen Gremio, einen anderen brasilianischen Verein, spielen musste, vor zwei Jahren noch Sieger und dann auch Weltmeister gegen Liverpool, im letzten Jahr im Endspiel, sondern es schieden auch Flamengo gegen die relativ unbekannte Mannschaft von Defensor aus Uruguay aus und Paraná Clube, das bereits zu Hause von der paraguayischen Mannschaft von Libertad mit einem 1:2 überrascht wurde und dann in Paraguay nur ein Unentschieden schaffte.

Damit stehen nur noch Gremio und Santos im Wettbewerb, wobei Santos grösste Schwierigkeiten gegen den venezuelanischen Verein Caracas hatte, bei dem man ein Unentschieden vorgelegt hatte, aber dann zu Hause Mitte der ersten Halbzeit 0:2 zurücklag. Santos schaffte noch das 3:2 bis zum Ende der Spielzeit, wobei der in Deutschland gut bekannte Zé Roberto eine überragende Partie lieferte und zwei Tore erzielte. Er steht auf dem Höhepunkt seines Könnens, obwohl schon 32 Jahre alt.

Mittelfeldspieler von Weltklasse
Er war ja von der Abstimmung unter den brasilianischen Zuschauern zum besten Spieler der brasilianischen Auswahl bei der WM in Deutschland bestimmt worden. Was sich die Bayern gedacht haben, als sie genau in dem Moment, als Ballack ging und ein Riesenloch im Mittelfeld hinterließ, auch mit Zé Roberto den zweiten Mittelfeldspieler von Weltklasse ziehen ließen, kann niemand erklären. Das Ergebnis liegt nun vor.

Zwar hatte Zé Roberto in der letzten Saison bei den Bayern eine Anzahl von Torchancen ausgelassen, so dass sein Ansehen schwand, aber man hatte offenbar zu schnell vergessen, wie viele von seinen Flanken von links in der Folge zu Toren geführt hatten. Jetzt hat er mit 32 auch noch den Torriecher entwickelt.

Die Bayern haben anscheinend die alte Bundesliga-Regel vergessen: Meister wird, wer die besten Brasilianer in seinen Reihen hat.

Santos mit Zé Roberto, aber auch Gremio sind ebenfalls Favoriten auf den Titel der Libertadores. Santos hat allerdings mit der mexikanischen Mannschaft von America einen der dicksten Brocken erwischt, damit haben wir schon den vierten Titelanwärter ausgemacht.

Gremio wird gegen Defensor aus Uruguay antreten und müsste das eigentlich schaffen, zumal man in Höchstform spielt.

Das letzte der Duelle im Viertelfinale ist das von Nacional aus Uruguay gegen den kolumbianischen Vertreter Cúcuta. Das müsste für Nacional zu schaffen sein.

Damit wären dann im Halbfinale America aus Mexiko, Gremio aus Brasilien, Boca Juniors aus Argentinien und Nacional aus Uruguay. Ein Endspiel Gremio gegen Boca Juniors wäre ein Klassiker. Aber solchen Vorhersageversuchen wird meist von der Realität ein Strich durch die Rechnung gemacht. Die Viertelfinalspiele finden am 16. und 23. Mai statt.

Schließlich wären noch die Favoriten für die jetzt beginnende brasilianische Meisterschaft zu nennen. Die beiden noch in der Libertadores vertretenen, Santos und Gremio, sind da sicherlich zuerst zu nennen. Diese beiden spielen wohl im Moment den besten Fußball in Brasilien. Nicht zu vergessen Vorjahresmeister São Paulo, der weiterhin stark ist. Internacional Porto Alegre müsste wohl bald seine schlechte Phase überwinden und dürfte dann auch Mitfavorit sein. Aus Rio kämen wohl nur Flamengo und Botafogo in Frage, während aus der traditionellen Hochburg Curitiba wohl im Moment keiner der drei Vereine auf der Höhe eines brasilianischen Titels steht. Das gleiche gilt wohl auch für die beiden Vertreter aus Minas Gerais und für die beiden anderen Traditionsvereine aus São Paulo, Corinthians und Palmeiras.

Nun, wie pflegt man bei uns zu sagen: Schaugn mer mal.

sport

Sport – die neue Rubrik auf Journalismus Nachrichten von Heute

Stephan Fuchs – Sport begeistert. Auch mich, vor allem dann wenn die Fäuste fliegen. Mixed Martial Arts oder Vale Tudo, Boxen und Kickboxen gehören sicher dazu. Vor allem dann, wenn dicke Zigarren im Spiel sind. Formel 1 und der Boxengossip. Untergrundkämpfe in den Kellern von Brighton in Südengland. Fussball und die Götterriege – die Tore, die Tränen. Rudern, die Königsdisziplin mit konzentrierter und hoher Schlagzahl. All das und mehr, Journalismus – Nachrichten von Heute bringt regelmässig Sport auf Ihren Desktop.


Der Berner Martino Ciano: Schweizermeister im Boxen und Thaiboxen

Martino Ciano

sport

999 Tore – Das Phänomen Romário

Karl Weiss – 999 Tore hat er in seiner Fussballerlaufbahn geschossen, er ist bald 42 Jahre alt und spielt weiterhin aktiv in der ersten brasilianischen Liga Fussball – Romário, mit vollem Namen Romário de Souza Faria. Er ist wieder zurückgekehrt zu dem Club, der ihn Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts herausgebracht hat – Vasco da Gama Rio de Janeiro. Mit dem Tor Nummer 1000, das er demnächst zu schiessen gedenkt, würde er in eine extrem kleine Gruppe von Genies des Fussballs aufsteigen. Dort befinden sich bisher nur sein Landsmann Pelé und der letztes Jahr verstorbene Ungar Puskas.


Romário de Souza Faria im Gespräch mit Parreira beim Abschiedsspiel 2005

Das Phänomen, so wird eigentlich Ronaldo genannt, ein anderer Landsmann Romários, auch ein Torjäger, aber der hat heute, noch nicht einmal dreissig, schon Probleme, überhaupt wieder in die brasilianische Nationalelf zurückzukommen – der Nationaltrainer Dunga hat ihn nicht für das demnächst anstehende Turnier der Südamerika-Nationalmannschafts-Meisterschaft berufen. Das wirkliche Phänomen ist Romário.

In Europa war Romário vielen ein Begriff, denn er spielte Jahre beim PSV Eindhoven (1988 bis 1992) und später beim F.C. Barcelona (1992 – 1994). In Eindhoven sorgte er wesentlich mit für drei niederländische Meisterschaften hintereinander und war vier Jahre hintereinander Torschützenkönig. Dort hat er das Wunderwerk geschafft, im Schnitt mehr als ein Tor pro Spiel zu erzielen – 165 Tore in 163 Spielen! Mit Barcelona hat er 1994 die spanische Meisterschaft gewonnen und war Torschützenkönig der spanischen Liga. Er ist bis heute ein Idol in Barcelona. Er hat für praktisch alle Vereine, bei denen er spielte, entscheidende Tore geschossen.

Sein damaliger Trainer beim F.C. Barcelona, Johann Cruyff, selbst einer der besten Spieler aller Zeiten, hat über ihn gesagt: „Er ist das Genie des Strafraums.“

1987 wurde er zum ersten Mal in die brasilianische Auswahl berufen und erzielte auch schon im gleichen Jahr sein erstes von 71 Toren (in 85 Spielen) für die „Seleção“. Diese prozentuale Ausbeute von etwa 84% ist die höchste aller brasilianischen Nationalspieler, noch höher als die Pelés, und wahrscheinlich sogar die höchste überhaupt (wenn man nicht vergleichbare Rekorde früherer Zeiten und jene „kleiner“ Nationalmannschaften unberücksichtigt lässt). Allerdings darf man natürlich auch nicht offensive Mittelfeldspieler wie Pelé mit reinen Stürmern vergleichen.

Es lässt sich kaum zählen, wieviele Torjägerkanonen er eingeheimst hat. Genau gesagt, sind es 28, darunter allerdings einige in kurzen Turnieren. Herausragend, dass er zweimal Torschützenkönig der Champions Leage war, obwohl seine Mannschaft es nicht bis ins Endspiel geschafft hat, einmal mit Eindhoven (1990 mit 6 Toren), einmal mit Barcelona (1993 mit 7 Toren). Auch war es eine bis dahin unbekannte Leistung, als er mit bereits fast 40 Jahren im Jahr 2005 Torschützenkönig der brasilianischen ersten Liga wurde, bereits wieder für Vasco Rio.

Gott des Balles
Der Höhepunkt seiner Karriere war die Kampagne zur Fussballweltmeisterschaft Brasiliens im Jahr 1994, das Jahr, in dem er auch zum „Besten Fussballer des Jahres“ gewählt wurde (nachdem er 1993 bereits den zweiten Platz belegt hatte). Der damalige Trainer Parreira – der auch im Jahr 2006 wieder Trainer der brasilianischen Elf war – hatte ihn wegen disziplinarischer Mängel während der Qualifikationsspiele aus der Auswahl verbannt, musste ihn aber in einer verzweifelten Situation vor dem letzten Spiel gegen Uruguay auf den Druck der Öffentlichkeit wieder ins Team holen. Romario schoss die zwei Tore zum Sieg gegen den brasilianischen Angstgegner und sorgte für die Qualifikation zur Weltmeisterschaft in den USA. Dort wurde er zum dominierenden Spieler und zu einem der Hauptverantwortlichen für den Gewinn der Weltmeisterschaft, der vierten Brasiliens.

Danach spielte er nur noch gelegentlich in der Nationalmannschaft. Am 27. April 2005 wurde ein Abschiedspiel der Nationalmannschaft für Romário gegen Guatemala gespielt, bei dem er selbstverständlich auch wieder ein Tor schoss.

Frauengeschichten und Eskapaden
Romário kann am ehesten mit Gerd Müller verglichen werden, von der Statur her, von der Spielweise und der extremen Schnelligkeit der Bewegungen, wenn er den Ball bekommt. Allerdings war Gerd Müllers Karriere weit kürzer als die Romários, so dass er nie der Zahl von tausend Toren auch nur nahekam. Was beide aber am meisten vergleichbar macht, ist ihr Torinstinkt. Im richtigen Moment an der richtigen Stelle zu sein, um das Tor zu erzielen, das war immer das Markenzeichen in der Karriere von beiden.

Romário ist kein Musterathlet. Er fiel oft durch mangelnde Disziplin auf. Fehlen im Training, nächtliche Eskapaden, Alkoholkonsum, Frauengeschichten, heimliches Verschwinden aus Trainingcamps, Romário hatte alles im Repertoire. Ein böses Gerücht sagte ihm nach, er habe einmal gesagt: „Wozu trainieren, ich kann schon Fussball spielen.“

Umso mehr ist zu bewundern, was er jetzt leistet. Zwar gab es schon andere Spieler, die noch mit 42 Jahren aktiv waren, zum Beispiel der legendäre Kapitän der deutschen Weltmeistermannschaft von 1954, Fritz Walter, aber das waren Mittelfeldspieler, keine Stürmer. Für den Stürmer ist Schnelligkeit ein unabdingbares Attribut und das ist genau, was rapide nachlässt, wenn man die 35 überschreitet.

Zwar gab es auch schon Stürmer, die mit ihrem Instinkt die nachlassende Schnelligkeit überspielen konnten, mit 37 noch, aber nie gab es einen Stürmer, der mit 41, annähernd 42 Jahren, noch die Leistung (und die Tore) gebracht hätte, die in einer Spitzenliga erforderlich ist. Dies macht Romário zum herausragenden Stürmer aller Zeiten. Er wird nämlich keineswegs aus Nostalgie aufgestellt, sondern ist weiter torgefährlich. In der gerade zu Ende gehenden Staatsmeisterschaft von Rio de Janeiro (Vasco ist schon ausgeschieden), die als Turnier ausgetragen wird, hat er die zweitmeisten Tore geschossen, nämlich 8. Wären ihm 9 gelungen, hätte es zur Zahl Tausend gereicht.

1000 Tore: Ticket in den Fussballhimmel

Vor zwei Wochen konnte man eines der Halbfinale des zweiten Teils des Rio-Turniers zwischen Botafogo Rio und Vasco abends nach zehn am Fernsehen sehen, was sich der Berichterstatter nicht entgehen lassen wollte, obwohl er anderntags früh raus musste, denn es hätte das Tor 1000 von Romário fallen können. Das mitreissende Spiel ging 3 : 3 unentschieden aus und Botafogo gewann im Elfmeterschiessen. Fast, fast, wäre Romário das tausendste Tor gelungen. Einer seiner Mitspieler hatte sich rechts durchgespielt und stand in extrem spitzen Winkel allein rechts kurz vor der Auslinie vor dem Tor. Er hob den Ball mit Gefühl über den Torwart und er senkte sich unter die Latte, als Romário dort heranflog, um den Ball mit dem Kopf endgültig im Tor unterzubringen. Aber, wie die Zeitlupe klar zeigte, hatte der Ball die Linie schon überschritten, bevor Romário ihn erreichte.

Nächste Woche beginnt die Runde der 1. Liga Brasiliens (die bis Dezember dauert) und Romário wird bei Vasco auflaufen. Zwar sind solche Tore immer die verzwicktesten, die einfach nicht fallen wollen, aber man kann sicher sein, es wird nicht lange dauern, bis die Kunde von Romários tausendstem Tor um die Welt gehen wird.

„Wir verhindern die Tore der anderen und vorne hilft der liebe Gott (oder Romário)“
Es gibt bisher erst 2 Spieler auf der Welt, die mehr als tausend Tore in ihrer Karriere geschossen haben, der eine ist Pelé, der über 1 200 erreicht hat, was wohl einen ewigen Rekord bedeutet, der andere ist der Ungar Puskas, der letztes Jahr gestorben ist.

Bei beiden wurden allerdings nur die Tore der erwachsenen Laufbahn und bei Pflichtspielen gezählt, während Romário auch seine Jugend-Tore und jene in einigen Demonstrationsbegegnungen zählt.

Andererseits kann man aber auch nicht den Fussball zu Zeiten von Puskas mit dem heutigen vergleichen. Damals wurde gespielt nach dem Motto: „Wir machen die Tore und hinten hilft der liebe Gott.“, heute ist das Motto: „Wir verhindern die Tore der anderen und vorne hilft der liebe Gott (oder Romário)“. Mit anderen Worten, es war zu jenen Zeiten weit leichter, auf tausend Tore zu kommen als heute. Den Vergleich mit Pelé strebt Romário sowieso nicht an.

Hier sind die Spiele und Tore von Romário bis jetzt:

Jugend- und Amateurzeit:
Verein Olaria (Vorortclub von Rio de Janeiro): 6 Spiele , 7 Tore
Verein Vasco da Gama: 110 Spiele, 59 Tore

Auswahl „unter 17“ von Brasilien: 11 Spiele, 11 Tore

Profi-Spiele:
Verein Vasco: 407 Spiele, 323 Tore
Verein PSV Eindhoven: 163 Spiele, 165 Tore
Verein F.C. Barcelona: 84 Spiele, 53 Tore
Verein Flamengo Rio de Janeiro: 240 Spiele, 204 Tore
Verein F.C. Valencia: 21 Spiele, 14 Tore
Verein Fluminense Rio de Janeiro: 77 Spiele, 48 Tore
Verein Al-Sadd (Emirate): 3 Spiele, kein Tor
Verein Miami: 29 Spiele, 22 Tore
Verein Adelaide United (Australien): 4 Spiele, 1 Tor

Seleção (Nationalmannschaft): 85 Spiele, 71 Tore

Sonstige
Auswahl von Rio de Janeiro: 2 Spiele, 2 Tore
Spiele zu festlichen Anlässen: 11 Spiele, 19 Tore

Summe über alles:
1253 Spiele, 999 Tore, im Schnitt fast genau 0,8 Tore pro Spiel, das dürfte absolut unerreicht sein.